Kinderzeichnung nicht Loben: Arno Sterns Buch über das Malspiel, den Malort, die Formulation, Spur des Kindes, Malatelier Malspielgruppe, Freilernen // Bild gemacht im Malspielraum von Alexandra Gysling, Bildrechte: www.chezmamapoule.com

Achtung: Dieser Text entlarvt einen Irrtum. Denn die Kinderzeichnung, die gibt es nicht! Was es gibt, sind bunte Spuren auf Papier. Mit diesen Spuren wollen Kinder spielen und sich an ihnen erfreuen. Gemäss Arno Stern wollen sie uns weder was zeigen, noch von uns Erwachsenen gedeutet oder gelobt werden. Aber was dann? Dass wir sie einfach malen lassen! 

Es gibt Bücher, die Augen öffnen. Und sie verändern unsere Einstellung gegenüber Kindern. Und somit allen Menschen. Vor kurzem hielt ich so ein Büchlein in der Hand: Wie man Kinderbilder nicht betrachten sollvon Arno Stern. Ganz kurz, damit ihr wisst, ob weiterlesen sich lohnt oder nicht:

  • Arno Stern untersuchte über 50 Jahre lang Kinderzeichnungen und beobachtete, dass Kinder dieselben Figuren in derselben Reihenfolge malen.
  • Dabei stellte er fest, wie wichtig freies Malen in einem geschützten, bewertungsfreien Raum ist.
  • Seine Message lautet: Lasst die Kinder einfach frei malen! Ohne ungeschickte Deutungen, gutgemeinten Lob und destruktiven Noten am Schluss. Denn all das nimmt Kindern die Freude und Interesse am malen.
  • Was dann? Wohnt dem kindlichen Malspiel einfach bei. Nehmt es ernst. Wertschätzend. Interessiert. Unvoreingenommen. Auf Augenhöhe mit Kindern. Denn wer bestimmt schon, was schön ist und was nicht? Ob die Sonne gelb ist oder grün?
  • Heute arbeitet der 90-jährige Stern noch immer in seinem weltberühmten Malatelier Malort in Paris. Er referiert als Experte an Universitäten und Museen und UNESCO bestimmte ihr zum Delegierten am Kongress für Kunsterziehung. Mittlerweile entstanden weltweit Malorte nach Arno Stern. Auch in Zürich.
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Der Palettentisch im Malatelier „Nuori“ von Alexandra Gysling.

Arno Stern und das erste Malspiel in einem Waisenheim 

Wer es schon einmal erleben durfte, vergisst das nie: Wenn ein Kind zum ersten Mal einen Pinsel hält und es gegen Papier drückt. Seinen ersten Strich wahrnimmt. Über die Farbe staunt, die es hinterlässt. Hingerissen von dieser Spur, die sich quer durch das weisse Papier zieht. Und gleich darauf noch mehr Farbe holt. Noch weitere Striche malt. Noch mehr Spuren zieht. Vertieft, konzentriert, entzückt. In seine eigene Welt abtauchend. Alles rundum vergessend. Als Arno Stern diese kindliche Begeisterung fürs Malen zum ersten Mal beobachten durfte, fand er seine Berufung.

Arno Stern hatte schon in den jungen Jahren ein bewegtes Leben hinter sich. Als Kind einer jüdischen Familie musste er vor dem Naziregime flüchten. Unter anderem lebte er in der Schweiz, in ständiger Angst deportiert zu werden. Nach dem Krieg landete er in Paris und bekam eine Arbeit in einem Heim für Kriegswaisen. Seine Aufgabe war es, Kinder zu beschäftigen.

Er fand abgenutzte Bleistifte und Altpapier. Und das, was Arno Stern später Malspiel nennen würde, begann. Zunächst malten Kinder am Tisch, später an der Wand. Es kamen immer mehr Kinder dazu und um Platz zu gewinnen, verkleidete Stern die Fenster mit Brettern. In diesem Waisenhaus entdeckte Arno Stern, wie wichtig freies Malen in einem geschützten, bewertungsfreien Raum ist. Hier entstand fast zufällig, die Grundidee seines mittlerweile weltweit berühmten Malateliers, der Malort.

Weil sich das Kind seiner Einmaligkeit bewusst wird, die es im Malspiel erlebt, verschwinden Vergleichen und Ermessen aus seiner Lebenseinstellung. Diese Erfahrung verändert sein Verhalten auch ausserhalb des Malortes. (Stern 2016: 169)

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Arno Sterns Beobachtungen und seine Grundidee der Formulation

Stern widmete sich fortan dem Malspiel und gründete sechs Jahre später im angesagten Arrondissement Saint Germain-des-Prés den ersten Malort. Der Malort ist ein Raum ohne Fenster mit seinen – wie Arno Stern es sagt – schützenden Wänden, einem schmalen Palettentisch mit Farben in der Mitte, einer Malfläche an den Wänden und einem sogenannten Maldienenden, der dem Malspiel beiwohnt und wo nötig helfend begleitet. Hier malen Menschen von 3 bis 93 Jahren nebeneinander. Ohne sich zu vergleichen, frei von Erwartungen, Bewertungen oder Leistungsdruck. Einfach malen. Seit 1947 sind am Sterns Malort in Paris mehr als 500 000 Bilder entstanden. Diese Bilder sollen die Räume des Malorts nie verlassen. Für immer geschützt vor Kommentaren, Bewertungen, Deutungen.

Mit der Zeit stellte er fest, dass Kinder immer wieder dieselben Figuren und Gebilde darstellen. Und dass es dabei eine bestimmte Reihenfolge gibt. Ähnlich wie wir erst zu krabbeln, dann zu stehen und später zu laufen lernen, gibt es eine Entwicklung bei der Kinderzeichnung: Erst zeichnen Kinder runde Figuren, dann Drehbewegungen (Arno Stern nennt sie Giruli), dann das Beklopfen des Blatters (das wären dann die Punktili), dann Strahlen- und Grätenfiguren und später konkretere Figuren wie Häuser, Bäume oder Vögel.

Mit einem Koffer voll Farben und Papier unternahm Stern zahlreiche Forschungsreisen und dokumentierte, dass diese Urfiguren sich weltweit wiederholen. Egal ob ein Kind bei den Beduinen in Afghanistan, in einer Altbauwohnung in Berlin oder im Dschungel aufgewachsen ist. Dieses Phänomen nennt Stern die Formulation. Für Arno Stern zapft die Formulation an unseren Erinnerungen aus dem Mutterleib und unseren ersten Lebensjahre.

Die Formulation ist ein Zusammenspiel von Beabsichtigtem und etwas aus den verborgenen Tiefen des Wesens Aufsteigendem. Letzteres wurzelt in der organischen Erinnerung an unsere allerfrühesten Zeiten. (Stern 2016: 137/159
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Die Malwand im Malort Eine Kinderzeichnung gibt es nicht Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll Arno Stern Malort Malatelier Malspielgruppe Malspielraum Malort von Alexandra Gysling www.chezmamapoule.com-27
Spuren von Malspuren an den Wänden des Malateliers „Nuori“.

Arno Sterns Hauptthese: Die Kinderzeichnung gibt es nicht!

Nach 50 jähriger Erforschung von Kinderzeichnungen, kam Arno Stern zum Schluss: Die Kinderzeichnung gibt es nicht! (Stern 2016: 17) Denn Zeichnung assoziieren wir mit zeigen, vorzeigen. Kinder aber zeichnen nicht, um uns etwas zu zeigen. Und sie zeichnen schon gar nicht, um uns zu gefallen. Kinderzeichnungen sind weder ein Kommunikationsmittel noch abstrakte Kunst. Sie enthalten keine Botschaften, sind aber auch keine Fantasieerzeugnisse. Mit dieser These widerspricht Stern der sogenannten Kunsterziehung (ein Teil der Kunstpädagogik). Diese geht nämlich davon aus, dass Kinder das was sie wahrnehmen, auf Papier wiedergeben. Aber warum zeichnen Kinder dann? Arno Sterns Antwort ist bestechend schön: Kinder zeichnen aus purer Freude heraus, aus Freude mit bunten Spuren auf dem Papier zu spielen.

Das Kind entdeckt gewissermassen die vor seinen Augen geschehende Spur, als komme sie ihm in diesem leeren Raum entgegen. (Stern 2016: 32)

Wie man Kinderbilder nicht betrachten (und vor allem nicht deuten und loben) soll

Und weil es eben keine Kinderzeichnung gibt, die uns etwas zeigen will, wär es gut, wir würden sie nicht betrachten. Wenn wir Kinder einfach ungestört malen lassen, erfahren sie Glück. Können innerlich wachsen und selbstbewusst werden.

Oftmals wollen wir Erwachsenen aber – ohne böse Absichten – Kinder loben und ihre Bilder deuten. Unsere ungeschickten Deutungen, unser gutgemeinter Lob rücken aber das eigentliche spielerische Malen in den Hintergrund. Und nehmen Kindern die Freude und Lust am Spiel mit Farben und Formen.

Warum? Stellt euch mal vor: Das Kind malt einfach aus purer Freude und staunt über die bunten Spuren die der Pinsel auf dem Papier hinterlässt. Und dann kommen wir Erwachsenen und fragen: „Und was hast du hier gemalt? Ist das Gelbe eine Sonne?“ Das Kind denkt: „Hmm, eigentlich ists nur Farbe auf Papier.“ Aber kann das so noch nicht formulieren. Weiss nicht so recht, was es uns antworten könnte. Es denkt sich, ja das ist wohl eine Sonne. Und malt fortan nur noch Sonnen. Malt das, was wir sehen wollen. Und nicht das, was aus ihm heraussprudelt. Unsere ungeschickten Deutungen überrumpeln und verunsichern Kinder.

Der Erwachsene glaubt, das Kind zeichne, um ihm etwas mitzuteilen, und es erwarte eine Rückwirkung, möglicherweise Lob für das gefällige Bild. Zu einer solchen Abhängigkeit sind die Kinder in unserer Gesellschaft erzogen worden. (Stern 2016: 19)

Dasselbe gilt für Lob. Wir sagen: „Bravo! Das hast du aber schön gemalt!“ Das Kind aber wollte gar nicht bewertet werden. Es malte aus intrinsischer (innerer) Motivation heraus. Und jetzt denkt es: „Wenn ich das so schön gemalt habe, könnte es dann sein, dass ich mal etwas nicht schön malen werde?“ Unsere überschwängliche Reaktion wird interessant. Das Kind möchte unsere Aufmerksamkeit auf das Endresultat (die Kinderzeichnung) wieder: „Wenn ich wieder so schön male, werde ich dann am Schluss wieder so gelobt?“ So malt das Kind nun, um wieder gelobt zu werden (extrinsische Motivation). Und wird abhängig von unserem Lob. Das Malen wird zum Zweck, um wieder Lob und Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir haben dem Kind – unbewusst – ein Motiv vorgegeben. Und erdrücken damit seine kindliche Spontanität, Freiheit und Kreativität.

So ist es nicht erstaunlich, dass das entmutigte Kind sich resigniert der Macht des Erwachsenen ergibt, gehorsam die Aufgabe ausführt und danach trachtet, gut bewertet zu werden. Das Kostbare in ihm ist verdorrt und zum endgültigen Verschwinden verurteilt. (Stern 2016: 98)

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Doch was tun, wenn nicht loben?

Kinderbilder nicht betrachten, heisst aber keinesfalls, dass man das Kind selbst nicht mehr sehen soll. Interessanterweise führen Verzicht auf Lob und Deutungen dazu, das Kind selbst noch mehr zu respektieren. Stern sieht seine Erkenntnisse als Wege zu neuen Beziehungen zu Kindern (Stern 2016: 24). Weil wir das kindliche Spiel mit den Farben als etwas Wertvolles sehen, nehmen wir die Kinder automatisch ernster. Es sind keine Kritzeleien mehr, es sind kostbare Spuren.

Daher appelliert Arno Stern: Lasst die Kinder frei malen. Unvoreingenommen, ohne Wettbewerb mit ihren Mitschülern, ohne Leistungsdruck, ohne Noten. Wischen wir den Gedanken aus, dass Kinder mit ihren Bildern etwas ausdrücken wollen, etwas ausdrücken müssen. Hören wir auf, ihnen etwas vorzuzeichnen, was sie dann nachzeichnen sollen. Verbannen wir Schablonen, Ausmalbücher und das Malen nach Zahlen gänzlich. Vergessen wir die Idee, dass Kindern geholfen werden müsse. Und lassen sie einfach frei malen. Ungestört von Deutungen, Lob und Bewertungen. Denn es ist nicht an uns ihre Bilder zu deuten, zu verbessern oder zu benoten. Wer bestimmt schon, was schön ist und was nicht? Ob die Sonne gelb ist oder grün?

Aber was sollen wir dann tun, wenn nicht loben? Wir können dem Malspiel einfach beiwohnen.  Es still geniessen, unser Kind in seinem Malspiel zu beobachten. Und es ernst nehmen: Frei von Vorurteilen. Unvoreingenommen. Wir können präsent sein und für Farben, Pinsel und Papierbögen sorgen. Wir können am Ende des Spiels die Blätter mit Datum und Namen anschreiben und die „kostbaren Spuren“ (Stern 2016: 84) in einem Fach oder Mappe aufbewahren. Und dem Kind somit zeigen, dass wir sein Malspiel ernst nehmen.

Praktisch heisst das, dass der Erwachsene diesem Spiel beiwohnt, anstatt nachträglich dem Erzeugnis zu begegnen. Das Kind erwartet gar nichts anderes als diese zustimmende Gegenwart. (Stern 2016: 88)

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Persönliches Fazit zum Buch Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll

Ich bin sicher, dass meine Töchter Arno Stern unbekannterweise dankbar sein werden, denn seine Botschaft wird mich und unser Familienleben fortan prägen. Beim Lesen wurde mir klar, was ich anrichte, wenn ich die Zeichnungen meiner Töchter (eigentlich gutgemeint!) deute oder lobe. Machen wir uns nichts vor: Ich werde nicht immer Zeit haben, die Rolle einer Maldienenden einzunehmen und während sie malen die ganze Zeit anwesend zu sein. Ich denke, das ist auch gar nicht die Erwartung. Weder die von Stern, noch die von meinen Kindern. Was ich aber problemlos täglich umsetzen kann: meine Sprache reflektieren. Und mich immer öfter mal fragen: Ist meine Wortwahl wertschätzend? Oder erhebe ich mich gerade über mein Kind? Ist es an mir ihnen vorzugeben, was gut und was schlecht (gemacht) ist? Was schön und was hässlich?

In einer Welt in der alles bewertet, geliked und geranked wird, in einer Welt in der Leistung, Status, Ehrgeiz und Stolz dermassen wichtig sind, bot mir dieses Buch nicht nur eine befreiende Sicht auf Kinderzeichnungen und unseren Umgang mit ihnen, sondern auf Menschen und unser Leben allgemein. Arno Stern inspiriert, die Dinge anders anzugehen. Unsere Kinder mit einer frischen, wertschätzender Haltung zu begleiten. Zuschauen zu dürfen, wie sie sich im Malspiel ihre eigene Welt anlegen. Wie sie ihrer eigenen Spur folgen. Und zwar nicht nur beim Malen.

Denn Arno Sterns Sichtweise lässt sich nebst Malorten, auch auf Kitas, Schulen, Spielplätze, Essensplätze – alle Orte an denen Kindern (und Menschen) begegnet wird – anwenden. Alles in allem ist das einfach geschriebene Buch ein Must für Lehrer*innen, (werdende) Eltern, Grosseltern, Tagesmütter, Kita-Erzieher*innen und alle, die mit Menschen zu tun haben. Sprich für alle.

Es geht nicht um die Abänderung von einem Unterrichtsprogramm oder um die Verbesserung veralteter Methoden. Es geht um die Einstellung dem Anderen gegenüber, sei es ein kleines Kind, ein Erwachsener, ein sogenannter Behinderter oder ein als begabter geltender Mensch. (Stern 2016: 85)


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Bilder © Ellen Girod