Wir unterbrechen unsere Kinder dauernd, erwarten aber von ihnen gute Manieren. Zeit unsere Erziehung umzudenken, findet unsere Autorin.

Stellen wir uns einen Vater vor, der Pasta kocht. Kurz bevor das Essen auf dem Tisch steht, geht er ins Wohnzimmer, setzt sich auf den Boden, berührt seinen Vierjährigen sanft am Handgelenk und sagt: “Darf ich Dich kurz unterbrechen?” das Kind schaut kurz von den Bauklötzen hoch und antwortet: “Moment bitte, Papa.” Der Vater wartet geduldig, bis der Klotz am richtigen Ort steht und sagt: “Jetzt darfst Du reden, Papa.” Erleichtert bittet der Vater: “Das Essen ist fertig, kommst Du bitte mit zum Tisch?” Die beiden marschieren fröhlich ins Esszimmer. Eine Szene die sich wohl in den wenigsten Stuben so abspielt. Denn im Alltag sieht die Erziehung oft so aus: “Das Essen ist fertig! Alle an Ti-isch!” rufen die Eltern aus der Küche. Und wenn nach zwei Minuten nicht alle da sind, wird man gerne lauter. Die Pasta wird schliesslich kalt.

Erziehung neu denken

Montessori Pädagog*innen sehen Kinder nicht als etwas Unfertiges, das man erst formen oder erziehen muss, sondern als vollwertige Persönlichkeiten. Entsprechend behandeln sie Kinder mit ebenso viel Respekt, wie sie auch Erwachsene behandeln würden. Eine bekannte Montessori-Pädagogin fragt zum Beispiel schon ein ganz kleines Baby, ob es ok ist, dass sie ihm nun die Windel wechselt. Statt das Kind einfach auf den Wickeltisch zu legen und zu wickeln. Auch werden die Kinder nicht demonstrativ aufgefordert, Manieren zu zeigen. Also keine Sprüche wie: «Wie heisst das Zauberwort?» oder «Und jetzt entschuldigst Du Dich!». Statt oldschool Erziehung geht man einfach mit gutem Beispiel voran. Aussenstehenden fallen dann die vergleichsweise hohe Sozialkompetenzen von Montessori-Kindern auf, oft werden sie dafür gelobt, dass sie besonders wohlerzogen sind. Dabei werden diese Kinder nicht wirklich «erzogen», sondern von Anfang an respektvoll behandelt.

Statt oldschool Erziehung geht man einfach mit gutem Beispiel voran.

In ihrem sehr guten Buch The Montessori Toddler beschreibt Simone Davies, wie Kinder in Montessori-Kinderhäusern lernen, andere nicht zu unterbrechen: Wenn die Lehrperson gerade beschäftigt ist, legt das Kind einfach seine Hand auf ihre Schulter. Das ist ein Zeichen, dass das Kind sie gerade dringend braucht. Davies rät das Hand-Schulter-Ritual auch zu Hause zu versuchen. Wird das Kind ungeduldig, können Eltern auch mit den Augen signalisieren: “Ich seh Dich.”

Hab ich hier sofort ausprobiert. Hat nicht funktioniert. Gerade abends, wenn mein Mann oder ich ein paar Worte wechseln wollen, unterbrechen uns die Kinder oft. Lange nervte ich mich. Dann leuchtete es mir ein: Wie kann ich Dinge von ihnen erwarten, die ich ihnen nicht vorlebe? Wenn das Abendessen fertig ist, rufe ich aus der Küche. Obwohl sie gerade in ein Buch vertieft ist. Wenn sie mit ihren Stofftieren spielt, wir aber gleich den Bus verpassen, rufe ich wieder: «Zieh Dich bitte an, wir müssen jetzt lo-os!» Obwohl das Spiel mit den Stofftieren für sie genauso relevant ist, wie mein Mann für mich. Seht ihr? Ich unterbreche meine Kinder andauernd. Erwarte aber, dass sie geduldig warten, bis mein Mann und ich fertig geredet haben.

„Macht nichts! Kann passieren.“

Statt uns also zu beklagen, dass Kinder (oder später dann die Jugendlichen) respektlos wären, können wir bei uns selbst beginnen und Kindern von Anfang Respekt entgegenbringen. So wird vermeintliche Erziehung obsolet. Statt über ausgeleerte Milch zu schimpfen, übe ich mich in einem: «Macht nichts! Kann passieren.» So wie ich das bei einem erwachsenen Freund tun würde. Statt «Und jetzt entschuldigst Du Dich!» entschuldige ich mich bei meinen Kindern, wenn mir ein Fehler passiert. Oder bei meinem Mann, und zwar nicht erst, wenn die Kinder im Bett sind, sondern wenn sie zuhören. Statt ein «Wie sagt man?» bedanke ich mich sehr oft und sehr aufrichtig bei meinen Kindern. Und natürlich auch bei unseren Nachbarn und Verwandten. Die Kinder kriegen ja alles mit.

Aber auch praktische Dinge können helfen, wie zum Beispiel den Tag so zu planen, dass man einen Zeitpuffer von 15 Minuten hat, bevor man das Haus verlassen muss. Klappt natürlich nicht immer. Aber um bei der anfangs erwähnten Pasta zu bleiben: Gerade hier kann man die Kinder sehr gut 10 Minuten bevor das Essen fertig ist, schon mal vorwarnen. Und worst case die Pasta halt kalt essen. Hat nebst ungestressten Kindern einen tollen Nebeneffekt: Wenn wir Kindern von Anfang an auf Augenhöhe begegnen, machen sie uns nach.

Dieser Text entstand zuerst auf unserem Instagram @chezmamapoule // Bildrechte: ©Simona Dietiker

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Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker von Momoland Photo gemacht.