Herbert Renz-Polster, Deutschlands bekanntester Kinderarzt, darüber wie Familienbetten und Donald Trump zusammenhängen. Und welche Rolle unsere vor Freude leuchtenden Augen für unsere Kinder spielen.
Dieses Interview erschien in kürzerer Form im Magazin wir eltern und wurde von Ellen Girod geführt.
Wie alle guten Kinderärzte erweckt Herbert Renz-Polster sofort Vertrauen. Es ist ein warmer Nachmittag, wir sitzen im Garten seines Landhäuschens im Allgäu, das er mit seiner Frau Dorothea Renz-Polster und ihrem jüngsten Sohn gerade ausbaut. Die drei älteren Kinder sind schon ausgezogen: In eine Geschwister-WG in Berlin. Dort wo ganz bald auch Renz-Polsters erstes Enkelkind einziehen wird.
Chez Mama Poule: Lieber Herbert, Deine Antwort auf den Rechtspopulismus lautet: Kindheit wagen! Was hat Kindheit mit Donald Trump zu tun?
Herbert Renz-Polster: Die Kindheit lässt sich grob in drei Fragen zusammenfassen: Bin ich sicher? Bin ich anerkannt? Gehöre ich dazu? Aus den Antworten auf diese Fragen bildet das Kind das, was ich „innere Heimat“ nenne. Die rechtspopulistische Agenda adressiert genau diese Fragen und beantwortet sie mit einem äusseren Angebot: Sicherheit wird mit Ordnung, Grenzen sowie Mauern vermittelt. Zugehörigkeit und Anerkennung erfährt man durch Überlegenheit und Hierarchien: Die dort draussen, ich da drinnen. Der Rechtspopulismus hält sozusagen ein äusseres Pflaster bereit, für ein eigentlich inneres Vakuum.
Also wurden Trumps Wähler autoritär erzogen?
Gegenfrage: Wie verletzt muss ein Mensch sein, wenn er seine Hoffnung auf eine Person richtet, die allem widerspricht, was wir als zivilisiert bezeichnen? Wo kommen diese Verletzungen her? Alles spricht da für die Kindheit. Denn in dieser ersten Abhängigkeit erfahren wir, ob es unter Menschen um Macht und Überlegenheit geht, oder aber um Vertrauen und Zusammenarbeit. Wenn ich innerlich sicher bin, wenn ich mich anerkannt fühle, dann muss ich nicht Anerkennung finden, indem ich andere abwerte oder mich einer angeblich überlegenen Gruppe zurechne.
Bundesstaaten, die Trump wählten, antworteten auch am meisten mit «Ja» auf die Frage «Ist es ok, Kinder zu schlagen?»
Ist diese Beobachtung empirisch belegt?
Trump wurde gewählt für ein ausgrenzendes, entwürdigendes Programm: Ich bin besser. Die anderen grenze ich aus. Für mich kein Zufall: Die Bundestaaten, die in der Umfrage «Ist es ok Kinder, zu schlagen?» am meisten mit «Ja» antworteten, gingen alle an Trump.
Was müssen wir also tun, um keine kleinen Trumps heranzuziehen?
Der beste Schutz ist für mich eine entwicklungsgerechte Erziehung. Sie vermittelt: Ich pass auf Dich auf. Du wirst hier nicht entwürdigt. Du hast eine Stimme und darfst die Welt entdecken. Kinder suchen diese Signale auf Schritt und Tritt: Ob beim Schlafen, beim Essen oder beim Leben in der Kita…
Tun wir das nicht bereits?
Na ja. Noch heute werden zum Beispiel Schlaftrainings propagiert, die nicht der kindlichen Entwicklung entsprechen. Kinder werden da toxischem, emotionalem Stress ausgesetzt. Und kommen in schwere Not. Das Signal «Ich bin bei dir» fehlt.
Herbert Renz-Polsters Buch „Erziehung prägt Gesinnung„
Die Zeiten von Johanna Haarer sind ja glücklicherweise vorbei und Schlaftrainings werden immer selten, oder?
Ja, heute nehmen 37% der Eltern ihre Säuglinge ins Bett, vor 15 Jahren waren es nur 14%. Und Schlaftrainings sind von 27% auf 9% gesunken. Eindeutig, die Eltern sind lockerer geworden, lassen mehr Nähe und Beziehungen zu ihren Kleinen zu. In den Einrichtungen hingegen, sind Kinder nach meiner Einschätzung mehr Stress ausgesetzt.
Es gibt Krippen, die sind weder freudvoll, noch anerkennend, noch ermutigend.
Inwiefern?
Weil heute viel mehr Kinder für viel längere Zeiten in Einrichtungen gehen. Und bei weitem nicht alle von ihnen sind entwicklungsgerecht. Für den Bindungspionier Bowlby ist «Freude», also vor Freude leuchtende Augen, ein Kernmerkmal der Bindung. Das Kind fühlt sich beheimatet, wenn es weiss, hier sind verlässliche, freudvolle Menschen, die gut auf mich aufpassen und mich spielen lassen. Aber es gibt Krippen, die sind weder freudvoll, noch anerkennend, noch ermutigend, ich finde, wir dürfen da schon ehrlich sein.
Frauen zurück an den Herd also?
Gegenfrage: Frauen zurück an den Arbeitsplatz? 99% der Menschheitsgeschichte waren wir Jäger und Sammler. Die Frau hat die Kinder versorgt und war gleichzeitig für die Ressourcen verantwortlich. Nein, Frauen müssen nirgendwohin zurück. Heute darf das jede für sich entscheiden.
Aber Du plädierst klar für Betreuung zu Hause?
Auch das nicht. Ich bin nicht gegen Krippen. Sonst wären wir ja aufgeschmissen. Betreuung durch andere war immer ein Plus. Aber immer unter den Bedingungen, die das Kind stellt. Und jede Untersuchung der Kitas zeigt: Wir haben da noch einen weiten Weg vor uns.
Braucht es eine Kinderpartei? Die sich für leuchtende Augen in der Kindheit einsetzt?
Da bin ich skeptisch. Massgeblich ist doch unsere Haltung gegenüber Kindern. Und eine fragwürdige Haltung können wir nicht politisch wegschaffen, sondern nur wegerziehen. In dem wir unsere Kinder anders behandeln. Und sie dann wiederum beziehungsstärker und vertrauensvoller werden.
Familienbett? Das konnte ich mir beim ersten Kind einfach nicht vorstellen.
Dieses «Wegerziehen» ist aber alles andere als einfach. Die meisten von uns wurden anders erzogen…
… und sind doch entwicklungsbereit. Viele denken etwa, ich wäre geboren als «Kinder verstehen» und «Schlaf gut, Baby» schreibend. Aber eigentlich war ich der, der nicht wollte, dass unser erstes Kind bei uns im Bett schläft. Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen.
Herbert Renz-Polsters Buch „Kinder verstehen„
Und wie kam es zum Sinneswandel?
Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass es mit dem Familienbett für uns viel besser funktioniert. Alte Erziehungsmuster kann man durch gute Erfahrungen überschreiben.
Woher kommt die Angst davor, Kinder zu verwöhnen?
Viele meinen, Kinder werden nur selbständig, wenn man sie dazu schiebt oder lockt. Dass Bindung auf der einen Waagschale liege und Autonomie auf der anderen. Es ist deshalb sehr befreiend zu verstehen: Das sind gar keine Widersprüche. Das eine ist die Eintrittskarte für das andere. Wie zwei Magneten: Wenn beide gut aufgeladen sind, läuft der Motor. Jede Beobachtung in jedem Alter des Kindes zeigt: Wenn Kinder sich wohlfühlen, werden sie mutig. Bindung macht frei.
Kann es zu viel Nähe geben?
Solange das Nähesignal vom Kind kommt, nein. Menschen brauchen viel mehr Bindung als andere Säugetiere, weil sie unglaublich unreif geboren werden und extrem schutz- und versorgungsabhängig sind. Gleichzeitig müssen wir viel mehr Autonomie als jede Art entwickeln. Denn anders als bei Tieren, müssen Menschen ihre Kinder auf ein Leben vorbereiten, das sie nicht kennen. Denn menschliche Zukunft war immer unvorhersehbar.
Wir Erwachsenen suchen ja auch Nähe und Schutz in Beziehungen und gleichzeitig Autonomie.
Können Eltern, die selber Bindungsprobleme haben, ihren Kindern Bindung vermitteln?
Aber natürlich! Die Suche nach Bindung hört nie auf, der Motor läuft ein Leben lang. Wir Erwachsenen suchen ja auch Nähe, Schutz und Zugehörigkeit in Beziehungen und gleichzeitig Autonomie und Anerkennung. Wir brauchen beides. Und in jeder Beziehung, die wir eingehen, kommen neue Erfahrungen hinzu, ob in einer Ehe oder während wir mit Kindern leben. Und mit jedem Gelingen überschreiben wir ein Stück weit unsere Bindungserfahrung. Es ist ein lebenslanges Lernen. Und Menschsein.
Wann vermitteln wir – unbewusst – unseren Kindern: Du gehörst nicht dazu?
In dem wir schlecht von Kindern denken und reden. Dass wir meinen, sie schlafen schlecht, sie protestieren, sie wollen nun ihren Willen durchsetzen. Oder man schämt sich, weil das Kind z.B. nachts ins Bett macht.
Welche Haltung können Eltern von Bettnässern einnehmen?
Die Schuld nicht beim Kind suchen. Sondern sagen: Mein Kind macht das nicht absichtlich. Und wir sind ein Team. Gute Kinderärzte empfangen Kinder dann immer so: Ach, weisst Du was? Bei mir war das genauso. Carlos Gonzales sagt zum Beispiel: Mit 10 hab ich noch ins Bett gemacht!
In Deinem neusten Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ ist auch oft die Rede von der sicheren Kindheit. Wie können Eltern diese genau gestalten?
Indem sie dafür sorgen, dass rund um die existenziellen Verhaltensweisen – also Schlaf, Essen, Sauber werden, Spielen – kein Beziehungsstress entsteht. Ein Kind schöpft Sicherheit, wenn es weiss: «Wir können hier essen und es gibt kein Stress. Ich kann schlafen und krieg die Begleitung, die ich suche, ohne in Not zu geraten.» Wenn die Stimmung zu Hause sinkt, wenn Eltern merken, wir haben keine leuchtenden Augen mehr, ist es Zeit zum sich hinterfragen.
Ein Zweijähriges steht nicht auf Gemüse, weil es schlicht evolutionär so angelegt ist.
Bekommt ein Kind, das ein Jahr lang kein Gemüse isst, keinen Mangel?
Kinder haben in sich ein Programm, um in ihrer Entwicklung weiterzukommen, und die Erfahrung zeigt: solange wir keine groben Schnitzer machen werden auch aus Gemüse-Anorektikern einmal vernünftige Esser. Wir können sie nur begleiten. Gemeinsam Gemüse schnippeln. Sie selber schöpfen lassen. Sie schmunzelnd zum Probieren einzuladen. Der Ton macht die Musik. Solange wir keine Kampfbeziehung rund ums Essen beginnen, solange klappt es auch. Und es hilft zu verstehen, dass ein Zweijähriges nicht auf Gemüse steht, weil es schlicht evolutionär so angelegt ist.
Warum?
Weil alles was bitter ist, unbedingt zu meiden ist. Das stand in der unaufgeräumten Natur, der wir evolutionär ausgesetzt waren, nämlich für „möglicherweise giftig“ . Das ist ähnlich befreiend wie die Einsicht, dass die meisten Babys keine Alleinschläfer sind, weil sie früher von Hyänen verschleppt worden wären.
Das beschreibst Du ja sehr schön in «Kinder verstehen». Wie sollen Eltern auf all das kommen, wenn sie Dein Buch nicht gelesen haben?
Vielleicht intuitiv? Dass es nicht geht, Kinder zum Essen zu zwingen. Sie alleine schreiend im Bett zu lassen. Das Herz schlägt da den Verstand.
Was ist das Ziel der Kindheit?
Ich würde sagen: Das auszubilden, was es für das „Neuland“ braucht, das Menschenkinder nun einmal zu besiedeln haben. Also Selbstbewusstsein, Rückgrat, die Fähigkeit gut für sich selbst, aber auch für die anderen zu sorgen… Unsere Kinder gehen ja auf eine Zukunft zu, die die besten Eltern nicht kennen können, sie werden sich neu erfinden, sie werden neue Dinge machen, neue Beziehungen und Familienmodelle eingehen. Dazu braucht es mehr als Folgen und Nachmachen, dafür braucht es: echten Eigensinn!
Ein Autoritätsproblem ist für Dich demnach keins?
Was ist ein Autoritätsproblem?
Ich wünsche mir ganz viele Kinder mit einem echten Autoritätsproblem.
Wenn man nicht gerne folgt und ausführt.
Das ist eine Riesenressource und wenn ich die Welt betrachte das Einzige, was unsere Gemeinschaft retten kann. Vor allem in unserem Erziehungssystem das Kinder darauf polt, Fragen zu beantworten, die sie nicht selber gestellt hätten. Da wünsche ich mir ganz viele Kinder mit einem echten Autoritätsproblem.
Und ich sehe schon die ersten FB-Kommentare, die künftige Probleme solcher Kinder in der Berufswelt prophezeien.
Wir wissen nicht, wie die (Berufs-)Welt von morgen ausschaut. Kindheit ist ein unschätzbar wertvoller Teil des Lebens und nicht die Aufwärmstrecke für den späteren Beruf. Anstatt uns um den späteren Beruf zu sorgen, sollten wir öfter nach leuchtenden Augen bei unserem Kind Ausschau halten. Wenn es die hat, wird es seinen Weg schon gehen.
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Herbert Renz-Polster
Dr. Herbert Renz-Polster (59) ist Kinderarzt und Wissenschaftler und beschäftigt sich vor allem mit frühkindlicher Entwicklung und Bindungsforschung. Seine Bücher «Kinder verstehen» und «Schlaf gut, Baby» (letzteres mit Nora Imlau geschrieben) haben die Erziehungsdebatte nachhaltig beeinflusst. Sein neustes Buch «Erziehung prägt Gesinnung: Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können» (hier bestellen) zeigt auf, wie das Familienklima von heute das politische Klima von morgen beeinflusst. Auf kinder-verstehen.de veröffentlicht er regelmässig Artikel rund um Erziehungsthemen.
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Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker von Momoland Photo gemacht.
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Bildrechte: ©fizkes/stock.adobe.com, ©Kösel Verlag, ©Ellen Girod
lieber ellen
ich habe sogar ein Foto von dich in meinem Zimmer mit deine Unterschrift als du damals noch tkatch gehiesen als miss Zürich 2005 gewesen bin wo extra damals gerade im seerestaurent 61 es gesah am 21.mai 2006 ich bin damals 15 Jahre alt gewesen
Tolles Interview
Danke, liebe Brigitte!
PS: Den Kommi aus dem Haarewaschenpost hab ich wie gewünscht gelöscht ;- )
Hallo, ich finde viele Dinge in diesem Interview nachdenkenswert und versuche auch, meinem Sohn so viel Sicherheit und Liebe zu schenken, wie ich kann. Ich finde es aber seltsam, Trumps Wahl damit in Verbindung zu bringen. Sind dann auch alle Grünen-Wähler bei der letzten Europa-Wahl von ihren Eltern geschlagen worden? Die Grünen wurden ja auch hauptsächlich gewählt, weil Leute Zukunftsängste haben in Bezug auf die Umwelt. Auch das ist ja ein äußeres Sicherheitsproblem. Ich denke, dass Menschen neben der inneren Sicherheit auch äußere Sicherheit benötigen und es völlig normal ist, dass politische Entscheidungen auch aufgrund von Sorge oder (empfundener) Unsicherheit getroffen werden. Der Zusammenhang der Wahl von Trump und dem Schlagen von Kindern liegt meiner Meinung nach eher darum begründet, dass viele Menschen, die körperliche Erziehungsmaßnahmen befürworten eher wertkonservativ sind in ihren sonstigen Einstellungen, was Trump an verschiedenen Stellen in seinem Wahlprogramm aufgegriffen hat.
Vielen Dank aber trotzdem für das Interview. Ich wurde dadurch darin bestärkt, in der Erziehung meines Sohnes auf mein Gefühl zu vertrauen und nicht auf irgendwelche Theorien.
Danke für dieses Interview! Ich habe Herbert Renz-Polsters Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ bereits gelesen und finde das Interview dennoch bereichernd!
Liebe Grüße, Svenja
Vielen Dank, liebe Svenja <3