Wie man einem Schulkind das Thema „Römer“ über Toilettenpapier schmackhaft macht, wie man wertfrei über den Tod spricht und warum unser Alltagsleben viel mehr zählt als jedes Arbeitsblatt aus der Schule. Plus: Für alle Eltern, die Homeschooling-technisch versagt haben (hier!), good news are: Wir machen es dennoch super. Dieses Interview über Homeschooling und Montessori wird uns ein gutes Gewissen machen. Und obendrauf einige Aha-Momente in Sachen Kommunikation mit dem Kind bescheren. Bitteschön!
Kürzlich fragte ich Anna Christina Jost, ehemalige Homeschoolerin, Montessori-Pädagogin und Gründerin von elternvommars.com, nach Tipps für homeschoolende Eltern. Dabei entstand dieses Gespräch. Und sowas wie eine Essenz meines bisher fünfjährigen „Heimstudiums“ der Montessori-Philosophie.
Liebe Anna, was ist für Dich die grösste Herausforderung in der Isolation?
Dass ich mich nie zurückziehen kann, also wirklich ununterbrochen die Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen zu müssen.
Und was machst Du, um dabei nicht wahnsinnig zu werden?
Mir selber keine Vorwürfe. Ganz oft hören wir: Bitte schaut nicht auf das Verhalten von Kindern, sondern drauf, welches Bedürfnis dahintersteckt. Ich finde, das gilt genauso auch für uns Eltern. Wenn ich merke, ich bin wütend, wenn ich merke, ich kann nicht mehr, dann schau ich, welches Bedürfnis dahintersteckt. Warum werde ich wütend? Und ich lasse es auch zu, diese Bedürfnisse und Gefühle und nehme sie an.
Vor zwei Jahren hast Deine damals sechsjährige Tochter zu Hause unterrichtet. Warum?
Man würde denken, einer Montessori-Pädagogin könne das nicht passieren, aber wir fanden für sie keinen Platz an einer Montessori-Schule. Da ich mir das damals leisten konnte, habe ich sie einfach selber unterrichtet.
Warum hast Du sie danach trotzdem eingeschult?
Kinder brauchen ganz einfach andere Kinder. Schule ist so viel mehr als nur das Einmaleins oder Geografie lernen, sondern, es ist auch soziales Leben. In der Schule lernen Kinder ein Gemeinschaftsleben kennen, das anders als zu Hause funktioniert. Das können Kinder nur mit Gleichalterigen. Familienalltag ist was ganz anderes. Beides ist wichtig und nicht ersetzbar. Zudem wollte ich wieder an meiner Schule unterrichten.
Seit einem Monat müssen Eltern die Aufgabe der Lehrer übernehmen, viele sind mit dem unfreiwilligen „Homeschooling“ überfordert. Hast Du gute Tipps für Eltern?
Was wir jetzt erleben, ist aus meiner Sicht kein echtes Homeschooling. Homeschooling braucht viel mehr Vorbereitung als eine Nacht. Ich bin gelernte Regelschul- und Montessori-Pädagogin, und musste mich damals dennoch erneut und sehr intensiv mit dem Lehrplan auseinandersetzen.
Zusätzlich findet das meiste Lernen auf dem Computer statt…
Wobei ich das nicht so schlimm finde. Es zeigt uns: Ist doch eine tolle Erfindung, dieses Internet. Natürlich brauchen Kinder eine reale Beziehung zu ihren Pädagogen. Pädagogen sind wichtig, es ist ein Beruf. Genausowenig wie Eltern nicht über Nacht ersetzt werden können, sind auch die Pädagogen unverzichtbar.
„Vielleicht hilft uns Eltern hier die Haltung, dass Kinder auch ohne Arbeitsblätter unglaublich viel lernen.“
Was sollen Eltern also tun?
Der Druck von den Schulen kann gross sein. Hier können die Eltern so gut es geht entgegenwirken und diesen Druck nehmen. Wenn Kinder ihre Arbeitsblätter rechtzeitig abgeben müssen, ist das halt so. Aber die Kinder brauchen vor allem unseren Halt. Sie spüren ja diese Krise. Fragen sich „Was passiert, wenn ich nicht in die Schule gehe? Wann treffe ich wieder meine Freunde?“ Vielleicht hilft uns Eltern hier die Haltung, dass Kinder auch ohne Arbeitsblätter unglaublich viel lernen. Das was wir jetzt mit der Corona-Krise erleben, ist Bildung pur!
Inwiefern?
Kinder lernen von uns Eltern oder durch einen Streit oder eine Diskussion unglaublich viel. Die Corona-Krise ist eine grosse Chance, Kindern zu zeigen, was unsere Welt zusammenhält, was Menschlichkeit ausmacht, was eine Gesellschaft ausmacht. Genau diese Dinge sind so wichtig im Schulalter, wenn Kinder so empfänglich auch für moralische Fragen sind. Was ist richtig, was falsch, was sind Regeln, warum sind sie wichtig? Welche Regeln machen Sinn und warum müssen sich alle dran halten? Jetzt können wir Kindern zeigen, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Und wenn eben doch zuerst Arbeitsblätter abgegeben werden müssen?
Was alle Eltern tun können: Den Kindern helfen, sich selbst zu managen: Was brauchst Du für diese Arbeit, ist es ein angespitzter Bleistift und ein Lineal? Möchtest Du in einem Sessel oder lieber auf dem Boden arbeiten? Was das Lernen angeht, da schauen wir mit meiner Tochter gemeinsam: Welche Ziele möchte (oder muss) ich heute erreichen? All diese Dinge kann man vorher gemeinsam überlegen, damit sich die Kinder besser konzentrieren können.
Wenn Kinder beim Fernunterricht blocken, ist es okay. Die Kinder erleben derzeit ja auch eine Krise.
Definiert Deine Tochter diese Lernziele selbst oder werden sie von den Lehrern vorgegeben?
Als wir zu Hause unterrichtet haben, war das eine Mischung. Ich gab ihr Tipps, versuchte ihr die Themen schmackhaft zu machen. Damit sie Lust bekam, selber weitermachen. Gleichzeitig musste ich sie genau beobachten, um ihr individuelle Lernangebote zu machen. An Regelschulen ist das ja anders: Da müssen alle Kinder zu einer bestimmten Zeit dieselben Aufgaben machen. Meiner Meinung nach suboptimal, aber so ist es nun mal.
Ein Beispiel, wie Du ein Thema „schmackhaft“ machst?
Ich habe neulich das Thema „Römer“ über Toilettenpapier schmackhaft gemacht. Es gab beim National Geographic diesen Artikel über Toilettenpapier. Wie es dazu kam, zu diesem Toilettenpapier. Wer es erfunden hat und wie die Römer gemeinsame Toilettensitzungen pflegten. Ich fand das so interessant, habe es meiner Tochter erzählt und sie war sofort Feuer und Flamme mehr über die Geschichte des Toilettenpapiers und auch über die Römer zu erfahren.
Meine Tochter blockiert total, sie will von ihren Kindsgi-Blättern nichts wissen. Da sie erst im Kindergarten ist, nehm das mehr als gelassen, mit einem Schulkind wäre ich komplett überfordert.
Das höre ich von vielen Eltern, dass die Kinder sich verweigern und sagen: Ich bin nicht in der Schule, also muss ich das auch nicht machen. Das ist aus meiner Sicht okay. Die Kinder erleben derzeit ja auch eine Krise. Ich würde versuchen mit dem Kind ein Gespräch zu führen und zu fragen: Dich beschäftigt diese Zeit, wie erlebst Du diese Isolation? Was vermisst Du? Was wünschst Du Dir? Die Situation mit den Kindern gemeinsam verarbeiten. Und was immer hilft – sowohl Eltern als auch Kindern – die Dinge mit Humor zu nehmen.
Kinder beobachten uns täglich, wie wir mit Krisen umgehen, wie wir streiten.
Siehst Du Eltern auch als Begleiter ihrer Kinder?
Wir Eltern sind vor allem eins: ihre allergrössten Vorbilder. Sie beobachten uns täglich, wie wir mit Krisen umgehen, wie wir streiten, wie wir unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen. Auch wenn wir das nicht mitbekommen, sie saugen das alles in sich auf.
Im Moment weiss niemand wirklich, wie es mit dem Lockdown genau weitergeht. Das verunsichert. Wie sorge ich dafür, dass meine Kinder meine Unsicherheit nicht „aufsaugen“?
Kinder haben sehr feine Antennen, auch wenn Du das nicht zugibst, spüren sie deine Unsicherheit. Aber Du kannst versuchen selber eine positive Haltung einzunehmen und den Kindern dieses Gefühl mitgeben: Schau, es geht jetzt allen gleich. Jedes Kind sitzt zuhause und überlegt sich, uff, wann kann ich endlich wieder meine Freunde sehen? Und schau, wie die Menschen jetzt versuchen gemeinsam eine Lösung zu finden. Wie die Menschen aufeinander achten. Man kann das vielleicht auch mit Dankbarkeit verknüpfen. Und dann natürlich den Kindern die Idee mitgeben, dass auch wir als Familie, jede von uns, etwas tun kann, um anderen zu helfen.
Und wenn konkrete Fragen zum Corona-Virus kommen?
Also mit meiner Achtjährigen schauen wir uns nicht gemeinsam die Kurve der Ansteckungsrate an. Aber natürlich reden wir darüber und versuchen uns Dinge vorzustellen: Wie könnte so ein Virus ausschauen? Warum gibt es Viren in der Natur überhaupt? Wie „reisen“ diese Viren herum? Und was können wir konkret zu Hause dagegen tun, dass diese Viren es nicht auf uns absehen? Ich glaube, es ist wichtig für die Kinder zu wissen, dass sie etwas tun können um sich selbst zu schützen.
Du lieferst also möglichst keine fertigen Antworten?
Man kann Wissen nicht einfach in andere Köpfe „rübertrichtern“, so lernen Kinder nicht.
Wie definierst Du Lernen?
Lernen heisst für mich eigene Erfahrungen zu sammeln. Dass man dabei manchmal auch scheitert, gehört dazu. Wir können Kinder dazu einladen, die Antworten selber herauszufinden. Durch Fragenstellen können wir über etwas debattieren, vielleicht gemeinsam erforschen. Montessori sagte mal, man kann in die Richtung zeigen, aber nicht sagen, was es dort zu sehen gibt.
Vor kurzem sprach meine Tochter von Gott und über den Tod. Ich selbst bin sowas wie eine Agnostikerin mit einem Hang zur Spiritualität. Wie kann ich mit meiner Tochter möglichst wertfrei über diese grossen Themen sprechen?
Als ihre Grossmutter starb, fragte meine Tochter: Wo ist die Oma jetzt? Und dann habe ich einfach gefragt: Was denkst Du? Dann hat sie zurück gefragt, aber was denkst Du, Mama? Und dann habe ich tatsächlich gesagt, wie ich mir das vorstelle, aber ich habe nicht gesagt, wie es ist. Danach habe ich sie wieder zurück gefragt: Und wie stellst Du Dir den Tod vor? Wenn Du an den Tod denkst, was für ein Gefühl löst das in Dir aus? So haben Kinder die Möglichkeit, ihr eigenes Weltbild zu formen.
Titelbild: ©Simona Dietiker
Dieses Interview gibt es auch zu hören in meinem brandneuen Podcast go hug yourself
Anna Christina Jost
Anna Christina Jost ist zweifache Mutter und diplomierte Regelschul- sowie Montessori-Pädagogin. Vor acht Jahren gründete sie die Elternplattform elternvommars.com – eine der fundiertesten Quellen zum Thema „Montessori zu Hause“ im deutschsprachigem Raum. Anna lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern (3 und 8 Jahre) in Wien.
- Mein erstes eBook: Montessori für Eltern: Sechs Ideen und konkrete Beispiele für Eltern.
- Über Montessori-Basics durfte ich Anna bereits vor zwei Jahren interviewen: Was ist Montessori?
- Montessori-Kinderzimmer einrichten trotz knappem Budget? 7 Tipps.
- Mit Kindern und Eltern auf Augenhöhe! 12 Tipps wie Kinder Respekt lernen.
- Wohnung aus Perspektive der Kinder einrichten. Oder wie Montessori Leben verändert.
Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker on Momoland Photo gemacht.
Wenn Du mich regelmässig liest, möchte ich Dich ermutigen, Mama-Poule-Gönner*in zu werden: So funktionierts
Liebe Ellen, liebe Anna
Vielen Dank für diese spannenden Perspektiven zum Thema Homeschooling. Die Zeit scheint ja bereits weit weg zu sein. Gleichzeitig ergeben sich daraus viele Erkenntnisse, die auch für die Zukunft wertvoll sind.
Wir stimmen komplett zu: Eltern dürfen beim Thema Schule eine aktivere Rolle einnehmen. Oft trauen sie sich nicht, weil sie nicht als „Experten“ oder berechtig fühlen. Gleichzeitig sind wir ganz vertraut mit unseren Kindern und ihren Bedürfnissen. Auch erleben wir im Alltag Dinge, die in der Schule verborgen bleiben. In unserer Arbeit mit Kindern, die massive Lernprobleme haben, erleben wir das immer wieder. Die Mengen an Hausaufgaben, Stoff und der Druck erzeugt massive Probleme für die Familien. Hier dürfen wir aktiver sein: Unsere Kinder begleiten und auch mal den Stopp-Knopf drücken, wenn Überforderung droht.
Und natürlich schlägt die Alltagserfahrung jedes schulische Arbeitsblatt. Viele Kinder können mit dem abstrakten, papierbasierten Lernen nichts anfangen. Sie können dazu keine Verbindung aufbauen und sich die Dinge nicht vorstellen. Deshalb ist das Lernen mit Material, Bewegung und Entdecken so wichtig. So können sich die Kinder Zusammenhänge selbst erschliessen. Wenn in den Schulen mehr Zeit und Raum fürs entdeckende Lernen wäre, könnten viele Lernschwierigkeiten vermieden werden.