Wie können Eltern und Kinder die Corona-Krise dank Bewegung meistern? Und wie können auch unsportliche Eltern Kinder und Sport vereinbaren? Was können wir tun, damit unsere Kinder in Quarantäne nicht zu Netflix-Zombies verkommen? Nach diesem Interview mit Andreas Wølner-Hanssen hab ich das Springseil im Keller geholt und fing wieder an morgens eiskalt zu duschen.
Titelbild: ©Simona Dietiker // Dieses Interview gibt es auch zu hören in meinem brandneuen Podcast Go hug yourself
Bewegung und Meditation haben mir vor rund zwei Jahren aus einer persönlichen Lebenskrise geholfen und sowas wie mein Leben verändert. Entsprechend habe ich mir während der Corona-Quarantäne vorgenommen, beinahe täglich zu joggen, als Präventivmassnahme, um nicht durchzudrehen. Bisher hat es funktioniert: Kürzlich rannte ich frühmorgens der Sonne entlang und war so erfüllt mit Dankbarkeit: Dankbarkeit für die Sonne, für diesen Hügel und für die schlichte Tatsache, dass ich da hochrennen kann. Doch warum ist Bewegung gerade in Krisenzeiten so wichtig? Wie genau hilft Bewegung unserem Hirn z.B. mit Ängsten umzugehen? Diese Fragen habe ich Andreas Wølner-Hanssen gestellt. Andreas ist ehemaliger Leichtathlet, Dozent für Sportwissenschaft und Kindersportexperte.
Chez Mama Poule: Lieber Andreas, wie sieht Deine Morgenroutine in Isolation aus?
Nicht anders als sonst: Toilette, Zähneputzen, Kraftübungen für den Bauch, den Oberkörper und die Schultern, dann Stretchen mit zwei, drei Yoga- und Atemübungen. Anschliessend nehme ich eine eiskalte Dusche und meditiere 20 bis 30 Minuten lang. Nach so einem Start in den Tag kann mir nichts mehr passieren.
Fängst Du beim eiskalten Duschen mit den Füssen an?
Genau, erst Füsse, dann Beine links und rechts, Arme bis zu den Schultern, Vorderseite, Rückenseite, am Schluss der Kopf. Für mich kann es gar nicht kalt genug sein, ich freue mich jeweils so richtig drauf. Danach spüre ich richtig, wie mein ganzer Körper durchblutet und vitalisiert wird.
Die von mir beschriebene Routine lässt sich auch mittags oder abends praktizieren, wenn vielleicht der Partner oder die Partnerin bei den Kindern ist.
Die Mediation fehlt mir in der Quarantäne sehr. Im Yogastudio bin ich jeweils wie geflogen, zu Hause – im Wissen, dass die Kinder jederzeit reinlaufen oder nach mir rufen könnten – fällt es mir sehr schwer.
Natürlich wäre die beste Zeit zwischen 5:00 und 6:00, aber die von mir beschriebene Routine lässt sich auch mittags oder abends praktizieren, wenn vielleicht der Partner oder die Partnerin bei den Kindern ist.
Viele Eltern haben wenig Zeit und viele Kleinkinder zu Hause, welche Routine würden sie einer Mutter empfehlen, die morgens nur 30 Minuten Zeit hat?
In der Sportwissenschaft sprechen wir von sogenannten Konditionsfaktoren. Deren wichtigsten vier sind: Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit und Koordination. In dem Fall würde ich 20 Minuten aufwärmen, drei, vier Kraft- und anschliessend zwei, drei Beweglichkeitsübungen empfehlen. 30 Minuten sind allerdings nicht viel, gerade in Zeiten von Corona muss man unbedingt in die Gesundheit investieren, um gut durch diese Zeit zu kommen.
Warum ist Bewegung gerade in Krisenzeiten so wichtig?
In der aktuellen Krise prallen zwei Existenzängste aufeinander. Die Angst um die Gesundheit, davor sich mit Corona anzustecken. Und die Angst um das Einkommen, davor den Job zu verlieren. Das ist für die Psyche verheerend. Umso wichtiger sind Abwehrmechanismen. Sobald wir mit einem regelmässigen Training beginnen, spüren wir, dass unser Körper leistungsfähiger wird. Das wirkt sich positiv auf unser Selbstvertrauen aus. Die frische Luft tut uns auch sehr gut. Gerade Joggen, wenn man es alleine macht, kann wie Meditation sein. Ausserdem bietet uns Bewegung eine gewisse Tagesstruktur, z.B. wenn man immer morgens Laufen geht. Zu guter Letzt, hilft Bewegung unserem Gehirn besser mit Stress und Ängsten umzugehen.
Hormone geben uns ein Gefühl der Gelassenheit und innerer Ruhe und bekämpfen Angstgefühle.
Wie genau hilft Bewegung gegen Ängste?
Beim Joggen, Inlineskaten oder Fahrradfahren werden Hormone ausgeschüttet, die geistige Gesundheit stärken und uns helfen Stress besser zu bewältigen. Während dem Sport werden Endorphine und Dopamin freigesetzt. Endorphine habe eine morphinähnliche Wirkung und lindern körperliche sowie geistige Schmerzen. Dopamin hilft uns während dem Sport länger durchhalten. Nach dem Sport kommt dann Serotonin ins Spiel, das gibt uns ein Gefühl der Gelassenheit sowie innerer Ruhe und bekämpft entsprechend Angstgefühle.
Und warum habe ich nach dem Joggen selten Hunger und wenn dann eher Lust auf gesundes Essen?
Das ist wegen dem Noradrenalin, das ist der Gegenspieler des Stresshormons Adrenalin und wird u.a. ausgeschüttet, wenn wir frischverliebt sind. Es hilft vor allem bei der Fettverbrennung und wirkt hungerhemmend, das ist dieses Hochgefühl, wenn wir uns nur «von Luft und Liebe» ernähren können.
Wie können unsportliche Menschen einen Zugang z.B. zum Joggen finden?
Sich bewusst sein, dass die ersten 10 bis 15 Minuten eines Trainings immer sehr anstrengend sind, egal wie fit man ist. Das Blut ist noch bei der Verdauung und noch nicht bei der Muskulatur. Erst nach 15 Minuten kommt man in einen Flow hinein, bekommt Freude am Sport, mit der Zeit wächst auch das Selbstwertgefühl.
Selbstwertgefühl ist ja auch für Kinder ein grosses Thema. Und in der Quarantäne bewegen sich Kinder noch weniger..
..das Problem ist, dass unsere Kinder auch ohne Quarantäne unter einem Bewegungsmangel leiden. In den 70er und 80er-Jahren haben sich Kinder drei bis vier Stunden pro Tag bewegt. Wir mussten noch raus, um andere zu treffen, gingen in den Wald, wurden nicht von unseren Eltern kontrolliert. Heute bewegt sich jedes vierte Kind maximal eine Stunde pro Tag. Und von dieser einen Stunde sind es vielleicht 15 bis 30 Minuten intensiver Bewegungszeit. Ein enormer Rückgang der Bewegungszeit also.
Die Eltern sollen jetzt unbedingt gute Bewegungs-Vorbilder sein.
Wozu führt ein Bewegungsmangel bei Kindern?
Zu Koordinationsschwächen, Haltungsschwächen und Übergewicht. Das Übergewicht ist übrigens genau wie Covid-19 eine exponentielle Epidemie. Früher gab es vielleicht ein übergewichtiges Kind pro Klasse mit 20 Kindern. Heute sind es ein Drittel bis ein Viertel der Schüler. Das Schlimme ist: 80 Prozent dieser übergewichtigen Kinder werden auch als Jugendliche und später als Erwachsene übergewichtig sein.
Was können Eltern tun, damit ihre Kinder trotz Quarantäne nicht zu Game- und Netflixzombies verkommen?
Die Eltern sollen jetzt unbedingt gute Vorbilder sein. Also selber nicht nur vor dem Laptop oder iPhone sitzen, sondern sich genug Zeit für Bewegung nehmen. Kinder orientieren sich stark an ihren Eltern. Natürlich hängt auch vieles vom Alter des Kindes und von den Umständen ab: Wohnen wir auf dem Land, in der Stadt, hat es einen Garten oder einen Park in der Nähe.
Und was kann man tun, wenn die Sportplätze und Parks abgeriegelt sind?
Geht unbedingt in den Wald! Zumindest solange wir noch keine Ausgangssperre haben. Im Wald können sich Kinder frei bewegen oder ihr leitet sie bewusst an. Da möchte ich auch an die Lehrpersonen appellieren, dass sie im Fernunterricht auch Bewegungshausaufgaben mitgeben.
Verstecken, Fangen oder Schatzsuche lassen sich wunderbar im Wald spielen.
Was kann eine Familie mit 4- und 8-jährigen Kindern im Wald so machen?
Da wären wir wieder bei den vier Konditionsfaktoren: Ausdauer, Kraft, Koordination und Beweglichkeit. Für die Ausdauer kann man einfach im Wald spazieren, laufen oder vielleicht biken gehen. Oder ihr spielt Verstecken oder Fangen. Was auch wunderbar als kleine Familie geht, ist ein Orientierungslauf bzw. eine Schatzsuche für die Kleineren, das kann man mit Markierungen oder Streifen gut planen. Für die Kraft kann man vielleicht einen Parcours organisieren, das machen Kinder auch sehr gerne. Also auf ein Bänkli wie auf eine Treppe steigen, drauf Liegestützen machen, über Baumstämme balancieren, drüber springen, unten durch krabbeln.
Die Koordination ist im Wald sowieso gegeben, durch die verschiedenen Unterlagen. Wenn es etwas wärmer wird, kann man versuchen barfuss durch den Wald zu laufen. Oder sich gegenseitig die Augen zu verbinden und einander barfuss durch den Wald führen, dadurch nimmt das Kind jede Bewegung ganz intensiv mit den Füssen wahr.
Und was tun, wenn es regnet oder bei einer Ausgangssperre?
Musik anstellen und zusammen mit den Kindern im Wohnzimmer ein Stationentraining machen, so wie man es aus dem Fitnessstudio kennt: 30 Sekunden Joggen am Platz oder Hampelmänner, 20 Sekunden Pause, danach eine Kräftigungsübung und das Ganze wiederholen. Im Netz findet man ja derzeit allermöglichen Workouts für zu Hause (vgl. Infobox). Ein perfektes Ganzkörpertraining wäre auch das Seilspringen, eventuell eher auf dem Balkon. Seilspringen deckt Kardiotraining ab, der Körper wird von Fussgelenken bis zu den Schultern gekräftigt und dazu macht man noch ein perfektes Koordinationstraining.
Zwei Stunden Bewegung pro Tag wären gut. Davon mindestens 30 Minuten Sport.
Wie animiert man jüngere Kinder fürs Turnen im Wohnzimmer?
Versucht zu nutzen, was ihr zu Hause habt: Im Moment geht ein Video viral, in dem eine Familie ein Hindernisparcours in der Wohnung aufgebaut hat. Oder sich gegenüberstehen und spiegeln. Das Kind fasst sich an den Kopf und die Mutter gegenüber macht dasselbe. Dann macht die Mutter Hampelmänner und das Kind macht es ihr nach. Ihr könnt das auch versetzt oder mit gegenteiligen Bewegungen machen.
Oder ihr nehmt dazu Jonglierbälle! Jonglieren vernetzt die Gehirnzellen und ist deshalb auch fürs Lernen sehr wichtig. Jonglierbälle kann man auch selber machen. Was auch vollkommen in Vergessenheit geraten ist, ist der Gummitwist. Kann man bei Eltern oder Geschwistern oder aber an den Möbeln einhängen und alleine für sich springen. Dann gibt’s Hüpfspiele, wie das «Himmel & Hölle», hierfür kann man das Spielfeld mit Kreide auf dem Balkon einzeichnen oder mit Matten in der Wohnung auslegen, eine Socke mit Gewicht beschweren und so Sprungübungen machen.
Wie viel Bewegung wäre sinnvoll für Kinder pro Tag?
Zwei Stunden pro Tag wären gut. Davon mindestens 30 Minuten Sport. Kinder erholen sich unglaublich schnell wieder, es wird ihnen nicht zu viel.
Wir bewegen uns ja weniger, müssen wir jetzt auch weniger Kohlenhydrate essen?
Unbedingt. Zuckerhaltige Getränke bei Kindern bitte unbedingt meiden, das ist wie eine Extramahlzeit. Was mir grosse Sorgen macht: Während wir uns weniger bewegen, füllen sich die Läden mit Schokohasen, das ist eine schlechte Kombi.
Dieses Interview erschien in kürzerer Form im Mamablog des Tages-Anzeigers
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Andreas Wølner-Hanssen
Andreas Wølner-Hanssen ist Kindersportexperte, ehemaliger Leichtathlet und Dozent für Sportwissenschaften an der Uni Basel. Er ist Gründer der Kindersportschule in der Region Basel, organisiert jährlich rund 120 Sportcamps und bringt so rund 5000 Kinder pro Jahr in Bewegung. Andreas Wølner-Hanssen hat eine 12-jährige Tochter und lebt in Biel-Benken.
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Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker on Momoland Photo gemacht.
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