Langzeitstillen? Normalzeitstillen!

Ihr erstes Kind stillte Annette vier Wochen, ihr Zweites fast vier Jahre lang. Mit uns teilt sie ihre Stillgeschichte und räumt mit Vorurteilen über das Langzeitstillen auf.

Vor Jahren sah ich einmal einen Film über Langzeitstillen. Ich war entsetzt. Frauen mit langen Haaren und wallenden Batikgewändern stillten ihre Kleinkinder und ich sah alle meine Vorurteile bestätigt. Ich fand Stillen etwas Schönes und Faszinierendes, aber ein Kind zu stillen, das bereits laufen konnte? Seltsam und abnormal.

Mein erstes Kind habe ich nur vier Wochen lang gestillt. Ich hatte eine postpartale Depression, war zu wenig informiert, zu wenig unterstützt. Das Stillen dauerte ewig und ich hatte die irrationale Angst, die alle Mütter kennen, mein Baby würde zu wenig bekommen. Stillen stresste mich und von überall hörte ich, dass sie auch mit Schoppen gross werde, es einfacher sei mit Pulvermilch, ich zu wenig Milch hätte, abstillen solle. Bald fütterte ich zu, bald hatte ich deshalb tatsächlich fast keine Milch mehr.

„Auch die Legende, dass Schoppenkinder besser durchschlafen, stellte sich als unwahr heraus.“

Als ich abgestillt hatte, war ich erst einmal erleichtert. Nach kurzer Zeit kam die Reue. Denn was die anderen gesagt hatten, stimmte nicht. Der Schoppen löste längst nicht alle Probleme. Ich hatte gehofft, dass es mich erleichtern würde zu wissen, wie viel meine Tochter trinkt. Stattdessen war ich verunsichert, weil sie bei weitem nicht die Menge zu sich nahm, die auf der Packung als Norm angegeben war. Auch das abendliche Schreien hörte nicht auf. Auch die Legende, dass Schoppenkinder besser durchschlafen, stellte sich als unwahr heraus. Dazu schaffte der Schoppen neue Herausforderungen: Man musste immer all das Zeug mitschleppen, sterilisieren, die Pulvermilch kostete viel Geld und nachts war ich hellwach bis ich den Schoppen bereit hatte.

Das Leben mit Kind war nun mal anders, als es vorher war – daran änderte auch der Schoppen nichts. Und mir fehlten die Hormone, die beim Stillen ausgeschüttet werden, die helfen, bedingungslos auf das Kind einzugehen und mit der Müdigkeit umzugehen. Ebenso wie die Nähe, das Gefühl, mein Kind mit meinem Körper ernähren zu können. Wenn ich eine Frau stillen sah, brach ich in Tränen aus. Heute weiss ich übrigens, dass meine Tochter ein zu kurzes Zungenband hat und wir uns wohl einiges erspart hätten, wäre das damals erkannt worden.

„Dass Stillen klappt, hat viel mit Motivation und Information zu tun.“

Mein zweites Kind wollte ich unbedingt stillen. Vier Jahre lang, sagte ich halb im Scherz, halb im Ernst. Als mein Junge zur Welt kam, ging er an die Brust, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Und doch hatten auch wir unsere Probleme. Er schrie die ersten zwölf Wochen sehr viel, verschluckte sich, verweigerte abends die Brust. Aber wir machten einfach immer weiter. Ich holte mir Unterstützung von einer Stillgruppe auf Facebook, besuchte bald ein Stilltreffen der La Leche League und merkte: Dass Stillen klappt, hat viel mit Motivation und Information zu tun.

Ab halbjährig ass mein Junge vom Tisch und das gerne und gut. Doch die Milch brauchte er weiterhin, wie alle anderen Kinder auch in diesem Alter. Ich lernte immer mehr übers Stillen und das sogenannte Langzeitstillen. Beispielsweise, dass das natürliche Abstillalter zwischen zwei- und sieben* Jahren liegt. Dass auch bei uns früher – und in vielen Kulturen noch heute, viele Kinder bis ins zweite, dritte oder sogar vierte Lebensjahr gestillt werden. Ich las Artikel des spanischen Kinderarztes Carlos Gonzalez und seines deutschen Berufskollegen Herbert Renz-Polster.

Stillen hatte für mich nur Vorteile. Nebst den emotionalen Aspekten auch viele Praktische. War er krank, wollte er oft nur stillen. Es war das einzige, was er zu sich nahm – was ihn vor Dehydration schützte. Dank den Vitaminen, Nährstoffen und auch Antikörpern in meiner Milch wurde er schnell wieder gesund. Es war einfach normal und natürlich. Es gab keinen Grund, warum ich meinem Sohn andere Milch als die auf ihn angepasste geben sollte. Die erst noch gratis zur Verfügung stand.

„Die meisten fanden Langzeitstillen eher interessant und liessen sich von mir gerne aufklären.“

Ich fühlte mich nie angebunden. Stillen wurde, je grösser er wurde, desto einfacher. Wenn ich zu Hause war, schlief er mit der Brust ein, war ich weg, ging es auch problemlos ohne. Ab 17 Monaten übernachtete er auch immer mal wieder bei Oma und Opa und beim von mir getrennt lebenden Vater. Dort schlief er meistens durch. Wachte er doch einmal auf, gab er sich mit einem Schluck Wasser zufrieden.

Mein Umfeld reagierte ziemlich gelassen. Nur von sehr wenigen musste ich mir blöde Sprüche anhören („Willst du ihn etwa bis 20 stillen?“), doch die meisten fanden Langzeitstillen eher interessant und liessen sich von mir auch gerne aufklären. Zudem liess das Gedeihen meines Kindes wenig Fragen offen. Und gab es doch einmal ein Streitgespräch, dann wusste ich mittlerweile genug Bescheid, um Argumente zu liefern.

Die Erfahrung, mein Kind zu stillen, empfand ich als unbezahlbar. Mittlerweile habe ich selbst die Ausbildung zur Stillberaterin gemacht und unterstütze andere Frauen, die stillen wollen. Egal wie lange.

Bild: © Sara Wasabi


*Langzeitstillen ist eigentlich Normalzeitstillen, denn natürliches Abstillalter liegt zwischen 2.5 und 7 Jahren

Die Anthropologin Katherine A. Dettwyler untersuchte die Schwangerschaftsdauer, das Alter der Geschlechtsreife und das Abstillalter von Schimpansen, Gorillas und Seehunden an, passte diese Daten Menschen an und konnte so berechnen, dass das biologische Abstillalter bei Menschen irgendwo zwischen 2.5 und 7 Jahren liegt.

In einer weiteren Studie verglich Dettwyler das Abstillalter in 64 traditionellen Kulturen und konnte aufzeigen, dass das früheste natürliche Abstillen kurz vor dem ersten Geburtstag, das späteste etwa mit 5.5 Jahren stattfand. Die meisten stillten kurz vor dem 3. Geburtstag ab.

 


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