Unsere Autorin Ellen Girod darüber, wie wir mit Kindern über Gefühle sprechen lernen und warum Sprüche wie «Indianer kennen keinen Schmerz» ihnen schaden.
«Statt mit ihrem Mann zu streiten, wartete meine Mutter bis es Schlafenszeit war. Dann fragte sie mich, ob ich das Zauberwort sagen wolle. Ich wollte: «Abrakadabra.» Und plötzlich war Ruff Ruff da. Ruff Ruff hörte mir geduldig zu. Er erfuhr meine Verwirrtheit. Verstand, wie peinlich mir das war. Ruff Ruff nahm mir den Schmerz.»
Diese bemerkenswerte Stelle las ich kürzlich in Lenny Kravitz’ Memoiren Let Love Rule. Darin erzählt der Rockstar von seiner Kindheit und auch von seinen Erfahrungen mit Rassismus. Lennys Vater war ukrainisch-jüdischer Fernsehproduzent, seine Mutter bahamesisch-afroamerikanische Schauspielerin. Um ihren Sohn zu trösten, erfand Lennys Mutter eine Figur. Immer wenn Lenny «Abrakadabra» sagte, verwandelte sich seine Mutter in Ruff Ruff, den magischen Hund. Ruff Ruff hatte eine andere Stimme und eine andere Körpersprache als seine Mutter. Der vierjährige Lenny war überzeugt, jemand anderen als seine Mutter vor sich zu haben. Ruff Ruff würde nie schimpfen und hatte zu vielem eine ganz andere Meinung als seine Mutter. Nachdem Lenny sich Ruff Ruff anvertraut hätte, sagte dieser jeweils: «Okay. Und nun verwandle ich mich wieder in deine Mutter!» Ein zweites Abrakadabra später wäre Lennys Mutter wieder da.
Mit Kindern über Gefühle sprechen: «Indianer kennen keinen Schmerz» schadet
Wenn sie noch klein sind, teilen Kinder mit uns jedes Erlebnis: Mama, guck! Wenn sie älter werden, hören wir das immer seltener. Vielleicht müssen die Kinder es sich zwei Mal überlegen, ob sie sich ihren Eltern wirklich anvertrauen sollen. Oder lieber doch nicht, weil die Mama dann nur schimpfen würde? Einer der Gründe übrigens warum Kinder zu lügen anfangen, ist weil sie sich nicht sicher genug fühlen, die Wahrheit zu sagen.
«Dabei ist es wichtig, dass das Kind weiss: Ich kann eigentlich mit jeder Geschichte zu meiner Mama und oder zu meinem Papa kommen und sie werden mir zuhören.» weiss Dr. Nkechi Madubuko, Soziologin und Autorin von Empowerment als Erziehungsaufgabe: Praktisches Wissen für den Umgang mit Rassismuserfahrungenn. Leider gäbe es eine verbreitete Strategie bei Eltern, Erfahrungen von Kindern runterzuspielen. «Dies würde wiederum den Effekt haben, dass die Kinder gar nicht mehr zu ihren Eltern kommen, wenn ihnen tatsächlich was passiert.» so Madubuko. Die Kinder würden dann denken: Ach, die glauben mir doch eh nicht.
Von Sprüchen wie Indianer kennen keinen Schmerz oder Mach doch kein Theater hält auch die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Dr. Sabine Weber von der IPW in Winterthur wenig: «Damit verbieten wir den Kindern, das auszudrücken, was sie fühlen. Dabei lernen Kinder den Umgang mit Gefühlen von uns Eltern.» Stattdessen schlägt Weber vor, das Kind lieber in den Arm zu nehmen und sanft Feedback zu geben: Oh, jetzt hast Du Angst gehabt. Oder: Oh, und jetzt warst Du ganz fest traurig.
Wir alle bräuchten einen Ruff Ruff
Wichtig sei gemäss Weber vor allem unsere Haltung: «Dass wir die Kinder ernst nehmen. Ein Rollenspiel kann dabei ein gutes Hilfsmittel sein, da lernt das Kind Gefühle zu formulieren. Es kann vor allem während der sogenannten magischen Phase stattfinden, also etwa bis zum Alter von fünf bis sieben Jahren. Ziel ist es, dass es mit dem Älterwerden keine Hilfsmittel mehr braucht.»
Und wenn ich mich so umhöre, scheint dieses achtsame und wertfreie Zuhören eine Fähigkeit sein, die nicht nur in Gesprächen mit Kindern oft verloren geht, sondern auch in Gesprächen von uns Erwachsenen untereinander. Viel zu oft wird sofort nach einer Lösung des Problems gesucht oder man fängt an, das Geschilderte mit seiner eigenen Situation zu vergleichen. Dabei tut es so gut, wenn jemand einem einfach nur zuhört. So wie dieser Ruff Ruff. Ich glaube, gerade jetzt könnten viele von uns ihn gebrauchen.
Bildrechte: ©Simona Dietiker
Dieser Artikel erschien zuerst auf tagesanzeiger.ch
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