Können wir Montessori auch übertreiben? Sechs Mythen über Montessori. www.chezmamapoule.com-2

Können Blogs und Social Media Eltern unter Druck setzen? Simone Davies von The Montessori Notebook klärt Missverständnisse auf und holt uns zurück zu den Wurzeln von Montessori.

Das hier ist eine Art Entschuldigungsbrief. Weil ich zu denen gehöre, die Ansprüche an Eltern erheben, die unrealistisch sein können. Hier möchte ich einige Mythen über Montessori ansprechen.

Ich glaube wirklich daran, dass wir unsere Kinder freundlicher betreuen können. Dass Kinder es lieben, wenn wir sie am täglichen Leben teilnehmen lassen und unser Zuhause bewusst für sie einrichten. Und dass das Lernen ein natürlicher Prozess ist, der Kindern nicht aufgezwungen werden muss.

Ich denke jedoch, dass Montessori manchmal zu weit getrieben oder missverstanden wird. Ich werde einige Dinge hervorheben, von denen ich glaube, dass sie Montessori zu weit führen können. Dinge die für eine durchschnittliche Familie nicht wirklich notwendig sind.

Bitte nehmt diesen Text nicht als Urteil, falls ihr etwas davon zu Hause umsetzt. Betrachtet es vielmehr als einen Denkanstoss, was Montessori für eure Familie bedeuten kann und was nicht.

Mythos #1: Unser zu Hause muss perfekt aussehen.

Als mein erstes Kind im Jahr 2000 zur Welt kam, wurde ich 26 Jahre alt. Das Internet und Social Media als Informationsquellen, wie wir sie heute kennen, haben damals – ob ihrs glaubt oder nicht – noch nicht existiert. Ich interessierte mich für Montessori,  kannte aber niemanden der darüber bloggte oder schon nur «vorbereitete Umgebung» googelte.

Mein Wissen holte ich mir aus diesem Buch und einem Montessori Eltern-Kind-Kurs. Um unseren Kindern eine gewisse Unabhängigkeit zu gewähren, haben wir weitgehend improvisiert und Dinge verwendet, die wir bereits zu Hause hatten. Da hatten wir keine «shelfies», die ich auf Instagram hätte teilen können. Dafür hatten wir einiges an Plastikspielzeug und womöglich zu viel Zeug in den Kinderregalen rumliegen. Es gab damals auch keine Lerntürme – stattdessen nahmen wir eine Trittleiter aus dem Baumarkt. Wir hatten keinen Mini-Kühlschrank für unsere Kinder, wo sie ihre eigenen Snacks holen würden. Solange sie noch klein waren, habe ich ihnen geholfen, das zu erreichen, was sie brauchten.

Was wir aber hatten: Einen kleinen Bereich für unsere Kinder in jedem Teil des Hauses. Damit sie sich als Teil der Familie fühlen konnten. Wir hatten einen niedrigen Schrank in der Küche, damit sie selbständig beim Tischdecken helfen konnten. Eine Auswahl an Spielsachen, die ich einmal die Woche auswechselte. Und einen Garten mit einem grossen Haufen Erde.

Wenn ihr euch also überwältigt fühlt, von all den Bildern auf Instagram – atmet tief durch. Es ist herrlich solche Räume für unsere Kinder einzurichten. Aber habt keine Angst, das zu verwenden, was ihr bereits zu Hause habt. Anstatt die perfekte Einrichtung zu suchen, verbringt mehr Zeit mit euren Kindern. Und seht die Fotos als Inspiration, nicht als ein «So muss Montessori sein».

Mythos #2: Wir müssen auf jeden Wunsch unseres Kindes eingehen.

Das Leben mit Kindern ist anspruchsvoll. Uns wird dazu geraten, die Perspektive unseres Kindes einzunehmen. Zu verstehen, woher es kommt und «to follow the child», dem Kind zu folgen.

Das heisst aber nicht, dass wir auf jede seiner Forderungen eingehen müssen. Dass wir ihm Zugang zu sämtlichen Dingen in unserem Haus gewähren müssen – wie z.B. der PC oder diese teuere Gesichtscreme – und dabei unsere eigenen Bedürfnisse ignorieren. Sowas kann zu einer Kind-zentrierten Existenz führen.

Viel lieber können wir nach Wegen suchen, um zusammen zu leben und die Bedürfnisse aller  Familienmitglieder zu berücksichtigen. Wir können unsere Kinder verständnisvoll dabei begleiten, den Spielplatz zu verlassen. Nach Wegen suchen, um ihre Morgenroutine so zu gestalten, dass wir nicht jedes Mal grosse Verhandlungen beim Verlassen des Hauses führen müssen. Wir können ihnen in den meisten Fällen sofort zuhören. Aber sie müssen auch lernen zu warten, wenn es nötig ist.

Mythos #3: Wir müssen unsere Kinder völlig unabhängig machen.

Wir könnten meinen, dass unser Kind in der Lage sein sollte, mehr für sich selbst zu tun. Der präfrontale Kortex des Kindes (der Bereich der Selbstregulation im Hirn) ist sich aber erst am entwickeln und der Erwachsene muss verfügbar sein, um bei Bedarf die Führung zu übernehmen.

Als wir eine Montessori-Spielgruppe besuchten, stellte ich fest, dass andere Kinder ihre eigenen Schuhe selber anziehen konnten. Also habe ich einen Bereich in unserem Eingang für meinen Sohn eingerichtet und dann erwartet, dass er es alleine schaffen würde. Er bat mich um Hilfe, ich aber antwortete, dass er es alleine machen kann.

Mit der Zeit merkte ich, dass ich es falsch verstanden habe. Wir geben so viel Hilfe wie nötig und so wenig wie möglich. Also suchte ich nach Schuhen, die er leicht selbst anziehen konnte. Ich hielt den Schuh auf, während er seinen Fuss reinwackelte. Und allmählich übernahm er immer mehr Schritte. Es geht darum Unabhängigkeit aufzubauen.

Mythos #4: Wir müssen streng sein, um Montessori zu sein.

Als Montessori-Lehrer*innen und Eltern, haben wir ein paar klare Grenzen. Das hilft uns Erwartungen zu definieren.

Ich glaube aber dennoch, dass es möglich ist, diese Grenzen liebevoll zu setzen. In diesem Momenten Vertrauen und Beziehung aufzubauen. Nicht einfach Kooperation mittels Angst erzielen. Sondern freundlich und klar Grenzen zu setzen.

Kann man Montessori auch übertreiben? Sechs Mythen über Montessori-4

Mythos #5: Wir müssen sämtliche Montessori-Materialien zu Hause haben.

Der Kauf sämtlicher Montessori-Materialien ist nicht nur teuer, sondern auch sinnlos und für unsere Kinder nicht hilfreich. Wenn ein Kind über drei Jahre alt ist und eine Montessori-Einrichtung besucht, kann es sogar kontraproduktiv werden, diese Materialien zu Hause zu haben. Denn in der Schule lernen sie es vielleicht anders, was für das Kind verwirrend sein könnte.

Ich empfehle gerne, das Kind zu beobachten, um zu erfahren, welche Fähigkeiten es gerade zu beherrschen versucht. Und dann nach Wegen zu suchen, diese Fähigkeiten zu üben und ihnen Herausforderungen mit Dingen aus unserem Haus zu schaffen.

Statt Materialien könnte man Kindern ausserdem einen Zugang zu Kunst- und Bastelmaterial gewähren. Wege finden, wie Kinder im Haushalt helfen können. Gemeinsam die Natur erkunden. Einfache Brettspiele spielen. Tanzen und Musik hören.

Mythos #6: Montessori-Kinder lernen schneller als ihre Altersgenossen. 

Wenn wir jemals das Gefühl bekommen, dass wir Montessori-Aktivitäten machen müssen, damit unser Kind schneller lesen oder akademisch besser als seine Altersgenossen da steht, ist der wahre Sinn von Montessori verloren gegangen. Montessori soll eine Umgebung schaffen, in der das Kind auf natürliche Weise gedeihen und lernen kann. Bei Montessori gibt es keine Konkurrenz. Jedes Kind ist einzigartig und lernt auf seine eigene Weise auf seiner individuellen Zeitlinie.

Was aber ist Montessori?

Nachdem wir in obigen Beispielen viele Mythen entlarvt haben, stellt sich die Frage: Was ist nun Montessori?

Für mich ist es:

• Kinder objektiv beobachten und ihre Bedürfnisse erkennen.

• Kinder so akzeptieren, wie sie sind. Und sie dabei durch einfache und schwere Zeiten begleiten.

• Ihren Interessen folgen und ihre Neugier wecken.

• Den Alltag entschleunigen und gemeinsam geniessen.

Ich selber lebe auf keinen Fall perfekt nach Montessori. Sondern lerne immer dazu und strebe nicht nach Perfektion. Ich hoffe, dieser Text hilft, über die wahre Bedeutung von Montessori nachzudenken. Das Montessori #shelfie aus Instagram loszulassen und stattdessen mehr langsame, kleine und bedeutsame Momente zu pflegen.


Dieser Text erschien ursprünglich in leicht anderer Form auf Simone Davies Blog The Montessori Notebook. Ich habe ihn so gut gefunden, dass ich Simone fragte, ob ich ihn übersetzen und hier für euch publizieren darf. Was sie bejahte. Vielen Dank an dieser Stelle, liebe Simone! 

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