Warum ich mit der Liebe-dich-selbst-Bewegung nicht viel anfangen kann. Und gleichzeitig dabei bin, eine tiefe Freundschaft mit mir selbst zu schliessen. Inkl. einer Übung in Selbstmitgefühl mit lebensverändernden Nebenwirkungen.
Ich habs ja versucht. Ich stand vor dem Badezimmerspiegel und sagte drei Mal «Ellen, ich liebe Dich!». In voller Lautstärke. Danach war ich stinksauer, denn es hat überhaupt nicht funktioniert.
Versteht mich nicht falsch, ich bewundere Frauen, die ihre Dehnungsstreifen zelebrieren. Aber eine Liebesbeziehung mit den Meinen anzufangen? Nun ja.
«Selbstliebe» ist ja mittlerweile zu einem Allgemeinplatz geworden. Und wird – im Kontext des Elternseins zumindest – oft sehr oberflächlich interpretiert. Denn mit Verlaub: eine Gesichtspackung hier, ne Duftkerze da und ein Wellnesswochenende mit Mädels dort, können weder vier Jahre Schlafentzug kompensieren, noch das fehlende Dorf ersetzen, das wir ja bräuchten, um unsere Kinder grosszuziehen.
Meine Dehnungsstreifen und ich werden also kaum ein Liebespaar. Was ich aber gerade ultraspannend finde, ist eine tiefe Freundschaft mit mir selbst zu schliessen. Diese Freundschaft begann, als ich das Buch «Wir Eltern sind auch nur Menschen» von Jörg Mangold las. Und die folgende Übung in Selbstmitgefühl ausführte.
Eine Übung in Selbstmitgefühl
(Bei dieser Übung gibt es kein Richtig und kein Falsch, begrüsse einfach genau diejenigen Gedanken die gerade kommen…)
Wann warst Du zum letzten Mal so richtig unzufrieden mit Dir als Mutter oder Vater? Unglücklich über Deine eigene Rolle oder Dein Verhalten? Wann hattest Du das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben? Gar als Elternteil gescheitert zu sein? Wer war an dieser Situation beteiligt? Was wurde gesagt? Was hast Du selbst getan?
Versuche nun Deine Gefühle und Emotionen von damals aufzurufen. Wie hörst Du Dich an? Wie klingt Deine Unzufriedenheit? Gibt es konkrete Worte oder Sätze, die Du an Dich selbst richtest? In welchem Ton machst Du das? Wie ist es, so angesprochen zu werden?
Und nun wechseln wir die Position: Stell Dir vor, Du sprichst mit einer richtig guten Freundin. Vielleicht ist es Deine liebste Freundin, die selbst auch Mutter ist. Oder es ist eine hypothetische Situation und Du stellst Dir vor mit Deiner Schwester (oder gar deiner eigenen Tochter) zu sprechen, falls sie mal Kinder haben soll. Deine gute Freundin kommt also zu Dir und erzählt Dir genau dieselbe Geschichte. Als bei ihr dasselbe wie bei Dir schieflief. Wie unzufrieden sie sich fühlte. Und wie sie sich Vorwürfe gemacht hat, als Elternteil komplett versagt zu haben.
Was würdest Du als gute Freundin zu ihr sagen? Welche Haltung würdest Du nun einnehmen? In welchem Ton würdest Du sprechen? Was wäre Deine Absicht, wenn Du in dieser Weise mit ihr sprichst?
Gibt es einen Unterschied zwischen den beiden Haltungen? Stehen im zweiten Fall vielleicht Trost und Ermunterung im Vordergrund, statt Vorwurf und Verurteilung?
Wie ich mit mir selbst zu hart ins Gericht gehe
War der Unterschied bei euch auch so gross? Dabei geht es um die gleiche schwierige Sache.
Diese Übung (die ungekürzte Version findet ihr im Buch „Wir Eltern sind auch nur Menschen„) lässt mich seit Tagen nicht los. Mit meiner Schwester z.B. bin ich nie so streng wie mit mir. An sie erhebe ich nie solche Ansprüche wie an mich. Wenn meine Schwester etwas verbockt, möchte ich sie ermutigen und trösten. Sobald ich aber etwas verbocke, mache ich mir Vorwürfe bis zum geht nicht mehr. Meiner Schwester mache ich einen Tee in der schönsten Teetasse und serviere dazu einen kleinen Keks. Wenn ich mir einen Tee mache, sorge ich nicht mal dafür, dass ich ihn warm trinke.
Insbesondere seit ich Mutter bin, neige ich dazu, mir gegenüber latent unfreundlich zu sein: Ich schmiere Brote für die Kinder, esse selbst die Resten auf. Ich kleide sie von Kopf bis Fuss in die süssesten Klamotten ein und trage selber noch immer die Leggings aus der Schwangerschaft (wegen dem hohen Bund, schon klar..) Organisiere wöchentliche Playdates mit ihren liebsten Freundinnen, bin aber selbst vielleicht alle drei Monate mit meinen Freundinnen unterwegs. Von Vorwürfen und Schuldgefühlen ganz zu schweigen.
Ist ja alles auch natürlich. Irgendwie. Könnte auf Dauer aber ungesund werden. Damit das nicht passiert, bringen wir jetzt Selbstmitgefühl ins Spiel.
Selbstmitgefühl für Eltern: Sich selbst ein guter Freund zu sein
Kristin Neff, US-amerikanische Psychologie-Professorin und Pionierin der Forschung zum Thema «Selbstmitgefühl» definiert es wie folgt: «Lernen sich selber gegenüber wie ein guter Freund zu sein in schwierigen oder schweren Zeiten.» (Mangold s.90)
Selbstmitgefühl soll Stress reduzieren und psychische Störungen vorbeugen. Und ist somit wie für uns Eltern gemacht. Und weil ich einsah, wie wahnsinnig unfreundlich ich mir gegenüber oft bin, bin ich nun dabei eine tiefe Freundschaft mit mir selbst zu schliessen. Eine liebevolle, mitfühlende Stimme in mir selbst zu Wort kommen zu lassen. Selbstmitgefühl zu kultivieren. Und mit all den Unfreundlichkeiten, die ich mir selbst zumute, aufhören. Zum Beispiel: Mir selbst Vorwürfe machen; mich nicht durchringen zum Joggen zu gehen; mühsame To-Dos aufschieben oder zu viel Zeit auf Instagram verbringen.
Immer wieder die Frage stellend: Was würde ich machen, wenn es hier um eine gute Freundin ginge? Selbstmitgefühl heisst für mich dabei nicht, eine weitere Tafel Schokolade am Abend zu verdrücken und dabei liebevoll über meine Dehnungsstreifen zu streichen. Sondern zu mir selbst sagen: «Hmm, Du hast jetzt super Lust auf Süsses, das ist verständlich. Aber gerade weil Du mir so wertvoll bist, möchte ich nicht, dass Du jetzt aus Müdigkeit oder Frust etwas machst und Dich 15 Minuten später mies fühlst.» Und dann nehme ich mir die Zeit und mache mir einen feinen Tofusalat.. oder ein Paar Sonnengrüsse… oder gehe einfach früher schlafen, weil ich offensichtlich Energie brauche.
Selbstmitgefühl unseren Kindern schenken
Selbstmitgefühl kann ausserdem ein grosses Geschenk an unsere Kinder sein. «Du kannst auch liebevoll und tröstlich mit dir umgehen, wenn du gescheitert bist oder etwas schief gelaufen ist.» (Mangold s.98) – die wenigsten von uns sind mit dieser Message aufgewachsen. Entsprechend verlockend der Gedanke es nun zu lernen und unseren Kindern vorzuleben, wie man in schlechteren Zeiten mit sich selber klarkommt.
Dafür können wir Eltern aber – einmal mehr – bei uns selbst beginnen. Denn wie im Flugzeug gilt auch im Familienalltag: «Bitte setzen Sie die Sauerstoffmaske erst selbst auf, bevor Sie Ihren Kindern helfen, sie anzulegen!» (Mangold s.92). Sprich: Vor lauter Motivation unseren Kindern Selbstmitgefühl beizubringen, dürfen wir uns selbst nicht vergessen. Unsere Kleinen wissen ganz genau, ob wir nur etwas texten oder auch verinnerlichen und leben. Erst wer mitfühlend mit sich selbst umgehen kann, geht entsprechend mit seinen Mitmenschen um. Und mit seinen Kindern.
Insofern kann ich mit meinen Kindern auf Augenhöhe erst leben, wenn ich mit mir selbst auf Augenhöhe lebe. Erst wenn meine innere Stimme liebevoll und mitfühlend auf meine Fehler reagiert, werde ich liebevoll und mitfühlend auf die Fehler meiner Kinder reagieren können. («Macht nichts, dass Du die Milch ausgeleert hast, sowas kann passieren!») Und erst dann wird sich dieser Ton wiederum auf die innere Stimme meiner Kinder abfärben.
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- Wie wir Mitgefühl mit uns (und im Umgang mit unseren Kindern) kultivieren können, erfährst Du in Mangolds Buch „Wir Eltern sind auch nur Menschen„.
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Bildrechte Foto: ©Rawpixel.com/stock.adobe.com; ©Simona Dietiker
Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker on Momoland Photo gemacht.
Liebe Ellen
Bin gerade auf diesen Text gestossen. Das Buch möchte ich unbedingt auch noch lesen. Kennst du das Kursprogramm MSC (Mindful Selfcompassion)? Entwickelt von den beiden Psychologen Christine Neff und Christopher Germer. Es wird überall auf der Welt angeboten. Ich habe es im Frühling besucht und es tut so gut. Ich denke, es könnte dir auch gefallen.
Herzliche Grüsse
Karin
Danke für diesen wundervollen Text Ellen! Seit der Geburt meiner Tochter vor 5 Monaten höre ich die innere kritische Stimme auch so laut, dass sie mitunter alles andere in mir überschreit. Auch ich bin stark auf dem Weg des „liebevoll mit mir selbst sein“ und zwar als Grundhaltung. Mich in jeder Situation – und vor allem in den schwierigen Momenten – liebevoll und wohlwollend zu betrachten und für mich da zu sein, statt mich kritisch zu bewerten und mich selber runter zu machen. Deshalb: Danke fürs Schreiben und Teilen!
Von Herzen, liebe Marlene. Vielen Dank für Deine Rückmeldung!
Danke! Danke für diesen super Text & diesen Denkanstoss! Du hast ja soo recht.
Könnte besser nicht geschrieben sein, I love it!
Liebe Ellen, Applaus!
Ich bin Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung und gebe auch Fortbildungen zum Thema „Selbstfürsorge“.
Und dort wird es niemals um „Viel Wasser trinken“ oder „Mal 5 Minuten Pause zum Auftanken“ (größte Lüge ever, wenn es nicht gerade eine intensive Meditation ist) gehen.
Wir müssen „uns selbst“ KOMPLETT neu lernen, um automatisch gut für uns zu sorgen und unsere zahlreichen Aufgaben und Rollen mit Liebe, Hingabe und Kompetenz ausfüllen zu können.
„Selbstliebe“ wird dabei genauso oft missverstanden wie „Happiness“. Beides Bewegungen, die neuen Wind brauchen.
Es geht niemals, niemals, niemals darum, alles schön zu reden. Alles mit einem güldenen Glanz zu überziehen, der wie ein dicker Lack das Leben in uns erstickt.
Viel mehr liegt die Kunst in der tiefen, hingebungsvollen Annahme des vermeintlich Unperfekten als Ausdruck einer Demut gegenüber der „universellen Schöpfung“, die uns und alles, was wir kennen, erschaffen hat und so glaube ich, keine Fehler macht.
Zwei Tipps am Ende: Erst als ich mir klar wurde, wie die Liebe zu meiner Tochter beschaffen ist, habe ich verstanden, was auch ich verdient habe: Eine unerschütterliche Liebe, die am größten ist, wenn ich in ihren dunkelsten Stunden plötzlich das Licht in ihr sehe. Dieses Wunder, das sie ist und bleibt, wenn sie es selbst gerade am wenigsten selbst glaubt.
Und: Liebevolle Selbstgespräche sind der Hammer. Immer wenn wir uns ertappen, gerade schlecht innerlich mit uns zu reden, die Richtung wechseln und liebevoll denken. Es ändert alles.
In Verbundenheit, Franca
@francafabis
Vielen Dank, liebe Franca!
Danke für deine Worte, meine Kinder sind aus dem Haus und ich werde immer rausgeholt wenn ich gebraucht werde.
Aber das geht bestimmt vielen so wie mir.
Ich wünschte ich könnte mehr mit den Enkeln unternehmen, aber ich bin schwer krank und da fällt es mir sehr schwer Unternehmungen zu machen.
Also lieben Dank für deine Worte Petra
DANKE für diesen wundervollen Kommentar. Klingt immens bei mir an. So schön…
Liebe Ellen, der Text kommt wie gerufen, ich werde mir das Buch morgen gleich in der Bücherei ausleihen, da ich momentan in einer totalen Kritikabwärtsspirale mir selber gegenüber bin. Ich weine gerade so sehr, weil dein Text bei mir einen Wunden Punkt berührt. Danke dafür
Liebe Vanessa,
Danke für Deine Offenheit und Wertschätzung, die wiederum mir (Freude)tränen in die Augen getrieben hat. Ich wünsche Dir viel Freude beim Lesen.
Alles Liebe,
Ellen