Die Sozial- und Sexualpädagogin Tina Reigel gewährt einen positiven Blick auf Sexualität für Kinder und Jugendliche, und auch Eltern. Autorin: Angelika

Dieses Gespräch entstand im Rahmen eines Interviews für das Schweizer Magazin wireltern.ch

Viva la Vulva – weibliche Genitalien zu feieren, ist längst ein Trend. Doch viele Eltern lernen diesen positiven Blick auf Vulven (und auch auf Sex) erst mit ihren Kindern mit. Ich fragte Tina Reigel: Wie bleibt man da authentisch im Gespräch mit dem Kind? Können wir mit (Sexual-)erziehung das Patriarchat stürzen? Und: Wie kommen Eltern von Kleinkindern zu regelmässigem Sex?

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(Im Podcast besprochene URLs und Ressourcen)

  • Tina Reigels Instagram: @littlefellow
  • Tina Reigels Webseite (sie berät Eltern sowie Pädagog*innen): littlefellow.ch
  • Ellens Blog: chezmamapoule.com
  • Ellens Insta: @chezmamapoule
  • Feministische Pornos und Hörbücher: Femtasy, Erika Lust, Getcheex.ch
  • Dokus: OMG Yes, Female Pleasure, Sex Love & Goop
  • Yoni-Kurse: wayofheart.ch, daniaschiftan.ch (Orgasmustraining online)
  • Aufklärungsbücher für Kinder: „Von wegen Bienchen und Blümchen!“ Müller et al.; „Klär mich auf!“ von der Gathen & Kuhl; „Ein Baby! Wie eine Familie entsteht“ Rachel Greener; „Wie siehst Du denn aus?“ Sonja Eismann; «Lina die Entdeckerin» Katharina Schönborn-Hotter
  • Sonstige Quellen: editionf.com > Interview mit Gunda Windmüller; dasmagazin.ch > Warum heissen Schamlippen so; thevulvagallery.com

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(Transkript des Gespräches, leicht redigiert für mehr Klarheit.)

Ellen Girod: Hallo liebe Tina, herzlich willkommen. Schön, dass du da bist.

Tina Reigel: Danke, ich freu mich.

Ellen Girod: Wir werden heute über das Thema Patriarchat sprechen, das ist mein Lieblingsthema, und wie wir das Patriarchat mit Sexualerziehung stürzen können. Du hast ja mal auf Instagram eine Anleitung gemacht zum Vulva- und Klitoris-Kneten für Erstklässler; also ich war begeistert. Nun würde ich sehr gerne wissen, wie diese Bastelidee so ankam.

Tina Reigel: Ja, also das ist wirklich eine gute Methode. Was meinst du, wie sie bei den Followern angekommen ist oder im Unterricht?

Ellen Girod: Beides. Sind die Leute ready für so was? Oder war das noch zu krass?

Tina Reigel: Im Schulunterricht eigentlich schon, da können Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen auch ihre passende Methode für die Thematik wählen und da leiten wir das an. Es ist eingebettet in das Thema. Man spricht zuerst über den Körper, was wo ist, macht vielleicht erst eine Zeichnung, und dann, in einem weiteren Schritt, kommt das Kneten. Die Idee dahinter ist: Das Kind sieht und fühlt. Und hat so einen anderen Bezug zu einem Körperteil. Für die Kinder ist  das sehr spannend, die schauen sich das an, die sehen die unterschiedlichen Formen, die schauen bei der Kollegin, wie es aussieht und können sich dann wirklich besser vorstellen, was sie da eigentlich noch für ein Körperteil haben. Und sie formen das jeweils auch sehr liebevoll.

Ellen Girod: In welchen Klassen war das?

Tina Reigel: Das war jetzt zum Beispiel in einer 1. Klasse, aber man macht das auch oft in der 4. oder 5. Klasse.

Ellen Girod: Und du warst da dabei und hast das begleitet, oder woher weisst du das?

Tina Reigel: Also, wir haben das auch in der Ausbildung, da wurde das als eine Methode vorgestellt, auch für die Mittelstufe eben, d.h. für die 4. und 5. Klasse. Und ich habe auch Kolleginnen, die das bereits im Unterricht gemacht haben manchmal auch mit so Fimo-Formen, wo man das anschliessend in einem Backofen brennen und dann als Schlüsselanhänger benutzen kann.

Ellen Girod: Gehört das zum Lehrplan 21? Bei meinen Kindern war das  jetzt kein Thema in der 1. Klasse. Oder sind das Pilotprojekte?

Tina Reigel: Das ist einfach eingebettet im Thema, d.h. es gehört zum Lehrplan 21, als Aufklärung zur Thematik Sexuelle Gesundheit.  Aber wie genau und was man in welchen Klassen macht, das ist jeweils thematisch entsprechend der Entwicklungsstufe der Kinder angepasst. Und bei den Kleineren ist es einfacher gestaltet und je älter die Kinder und Jugendlichen werden, umso detailreicher ist es dann; in der Funktion, in der Selbststimulation und allem, d.h. da wird es dann noch ausführlicher. Aber bei den Kleinen geht es in erster Linie darum, zu sehen: „Ach so, aha, das habe ich an meinem Körper, so funktioniert es, so sieht es aus. Urin kommt nicht am gleichen Ort raus wie Kot usw.“ Alles so Details, die sehr wichtig sind für die Körperwahrnehmung.

Ellen Girod: Spannend. Und wie kam die Bastelidee sonst an? In der Instagram-Community?

Tina Reigel: Unterschiedlich. Es gab wirklich alles, also auch ganz klassische Reaktionen von Leuten, die gesagt haben: „Muss das wirklich sein? Also bitte, es gibt da doch auch noch anderes.“ Also leicht schockiert. Und auch im Sinn von: „Warum soll man Kinder bereits mit solchen Themen konfrontieren?“ Das ist gerade das Klassische: Mit welcher Brille schaut man da drauf? Wir unterscheiden da die Erwachsenenbrille der Sexualität und die kindliche Brille der Sexualität. Und wenn du die Erwachsenenbrille trägst, dann bewertest du schon viel mehr, dann siehst du eine Vulva und es gehen innere Filme ab, Prägungen, Vorstellungen, deine persönliche Haltung vielleicht zu deiner Vulva und dann denkst du dir vielleicht: „Ja, aber irgendwie, das ist doch etwas, das zur partnerschaftlichen Sexualität gehört. Warum soll man ein Kind damit konfrontieren, warum soll ein Kind wissen, dass es eine Öffnung gibt, die etwas aufnehmen kann, dass da etwas in den Körper reingehen kann? Das Kind kann doch noch lange nichts damit anfangen.“

Ellen Girod: Und was sagst du dann?

Tina Reigel: Dann sag ich erstmal, dass ich das verstehe, denn das hat ja eine Haltung dahinter, warum da jemand findet: „Ui, das stösst mich jetzt“. Es geht nicht darum, zu überzeugen, sondern aufzuzeigen, wo deine Haltung herkommen kann und eben wirklich den Blick darauf richten: Je mehr Kinder und je früher sie ihren Körper kennen und je mehr sie darüber wissen, umso besser können sie sich darin wohlfühlen und ihn schlussendlich auch schützen. Das ist wirklich indirekte  Prävention. Und das ist dann oft der Weg, wo die im ersten Moment entsetzten Erwachsenen erst merken: „Ach so, okay“.

Ellen Girod: Sehr schön. Ich finde das sehr spannend, ich habe die Idee gesehen und fand das total cool, aber ich muss ganz ehrlich sagen, als ich in der 1. Klasse war, wäre es nie ein Thema gewesen, so etwas zu machen. Und ich muss schon sagen, ich selbst habe irgendwie auch vor zwei Jahren nicht gewusst, dass die Klitoris so weitreichend ist und diese Füsschen hat. Es ist ja schon sehr neues Wissen, auch für uns.

Tina Reigel: Bei uns in der Ausbildung waren auch einige, die gemerkt haben „Wow. Okay. Das Wunder Klitoris, also krass, was da noch alles dazugehört.“ Und da muss man sich auch nicht schämen, weil so sind wir irgendwie aufgewachsen, und  wie du sagst, in der 1. Klasse wäre das nie Thema gewesen. Ich muss auch sagen, das ist nicht Standard. Das macht man nicht immer. Das gehört nicht zur 1. Klasse dazu. In der Schweiz gibt es Sexualpädagogik leider erst meist aber der 3., 4. Klasse, wo es dann regelmässiger kommt. Ausnahmsweise kann es mal bei Kleineren vorkommen, aber       ja, wir wissen, wir haben es einfach nicht anders gelernt und auch die Lehrbücher, noch heute, haben unvollständige Abbildungen. Da steht dann „die erbsengrosse oder eben -kleine Klitoris“ und dann stellst du dir so ein Minidings vor. Ja, und Erbse ist  jetzt auch nicht so prickelnd irgendwie.

Ellen Girod: Ich finde es schwierig, man lernt ja all diese neuen Dinge, es ist ja auch ein Trend, „Viva la Vulva“ usw. Ich finde es sehr bereichernd für mich, aber man will das ja auch den Kindern dann richtig beibringen. Ich habe zwei Mädchen, ich bin da deshalb vielleicht auch noch mehr unter Druck, und ich finde es gar nicht so einfach, das dennoch authentisch rüberzubringen, denn ich selbst habe es ja anders gelernt.

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Tina Reigel: Das wäre z.B. der erste Schritt. Das ist ja auch sehr toll, dass du das merkst  bei dir, dass da irgendetwas nicht so deckungsgleich ist. Da gibt es Unsicherheiten, Irritationen, auch innere Widerstände und ja, das Hochleben der Vulva ist für uns sehr ungewohnt, und wir denken vielleicht selbst auch: „Ja, es ist halt einfach eine Vulva.“ Aber der erste Schritt wäre dann vielleicht selbst mal den Spiegel in die Hand zu nehmen, genauer hinzuschauen. Das ist allgemein in der Sexualerziehung ein wichtiger Schritt: Bei sich anfangen. „Wie sieht denn meine Vulva eigentlich aus? Was sehe ich da? Bin ich im Reinen mit meiner Vulva? Finde ich das irgendwie komisch, eklig? Habe ich Mühe, das anzuschauen? Gibt es da irgendwie Erinnerungen, die aufkommen?“ Oder sich einfach mal in Ruhe hinsetzen und schauen, wie fühlt sich das eigentlich an? Oder weiss ich, wie sich meine Vulva verändern kann? Das sind alles Sachen, wenn man sich nicht die Zeit nimmt und sich selbst nicht das Okay    dazu gibt. Das ist so ein Prozess, das kommt nicht von heute auf morgen, und das darf man auch den Kindern signalisieren oder mitteilen: Dass man da selbst noch gewisse Unsicherheiten hat und sich informiert und sich auch noch weiterbildet.

Ellen Girod: Hast du da vielleicht ein konkretes Beispiel, wie man das kommunizieren kann? Also angenommen eine Mutter merkt, sie will das gar nicht so, sie hat auch Mühe sich da mit   dem Spiegel anzusehen, ist ja schön, dass das jetzt alle so machen, aber sie ist für sich jetzt so der altmodische Typ; aber trotzdem möchte sie ihr Kind vor allem aus dem Präventionsgedanken heraus modern aufklären. Wie         kann man das konkret und möglichst authentisch kommunizieren?

Tina Reigel: Das kommt auch darauf an, wie alt die Kinder sind. Man kann da einfach sagen: „Okay, ich möchte jetzt meine Vulva nicht anschauen, aber schau, hier hat es einen Spiegel; wenn du das magst, das kannst du machen.“ Also dass man da halt ein bisschen über seinen Schatten springt, aber wirklich auch gut in sich hineinfühlt und sagt: „Nein, das liegt mir gar nicht, aber vielleicht gibt es irgendwie ein Gotti oder eine Tante, die da irgendwie auch darüber sprechen kann. Man muss als Eltern auch nicht die Erwartungen an sich haben, dass man alles supergut und eben fortschrittlich macht und voll dabei ist. Denn es gibt diese Themen, da sind wir unsicher und da gibt es Irritationen und da darf man auch sagen. „Hey, schau, da fühl ich mich grad nicht so wohl, Kind, ich muss da noch überlegen und ja, ich muss da noch Worte finden, wie ich mit dir darüber sprechen kann, oder wo wir uns da Informationen dazu holen können.“ Und da gibt auch sehr tolle Bücher dazu; das ist oft auch eine gute Brücke für Eltern, wenn sie merken, dass sie da selbst noch unsicher sind oder Widerstände haben, dass man sich ein Buch anschafft und so mit dem Kind ins Gespräch kommen kann. Dann ist es ein bisschen weg vom eigenen Körper, und man kann sich auf das Buch konzentrieren.

Ellen Girod: Megaschön. Vielleicht können wir am Schluss noch eine Liste von Buchtipps zusammenstellen; du hast ja schon einige genannt. Aber ist es dann die Idee, dass ich zusammen mit dem Kind mit dem Spiegel die Vulven betrachte oder soll das jede für sich machen? Oder gibt es da noch konkretere Tipps?

Tina Reigel: Ja, das kann jeder für sich machen. Da ist ja auch die Grenze. Was auch viele Eltern verunsichert: Kinder wollen schauen, je kleiner die Kinder sind, umso mehr wollen sie sehen. „Wie ist dein Körper, was machst du genau auf dem WC?“ Man kann ja kaum alleine aufs Klo gehen mit kleinen Kindern und da gibt es den einen Teil, wo man sagen kann: „Ja, du kannst mal schauen, kuck mal, bei mir sieht das so aus.“ Einige Kinder fragen auch: „Darf ich da mal anfassen?“ (Bspw. die Brust oder die Vulva oder das Bein.) Aber dann muss man auch merken: „Schau, jetzt ist genug,    das ist mein Körper. Der gehört mir.“ Auch diese Abgrenzung klar signalisieren: „Du hast selbst einen Körper, und du kannst da entdecken und forschen.“ Und das macht man dann getrennt voneinander. Also, dass man dem Kind sagt: „Schau, hier hat es einen Spiegel auf dem Klo oder in deinem Zimmer hat es einen Spiegel.“ Den kann man auch an die Wand hängen, oder ein kleiner Handspiegel, damit das Kind weiss, wo die Orte sind, wo es sich  ungestört entdecken und erkunden kann. Aber jetzt so nebeneinander sitzen, das ist dann etwas für Erwachsene. Es gibt ja auch so Kurse, wo die Erwachsenen das machen können; denn da gibt es wirklich auch Hemmungen und das kann man    für sich machen und wirklich dem Kind signalisieren: „Schau, in Bezug auf  deinen Körper, da gibt es wirklich Orte, wo das stattfinden kann.“ Und da ist ja auch diese Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen, und es ist sehr wichtig für Kinder zu lernen, dass man das nicht mischt, grad auch in Bezug auf Übergriffe.

Ellen Girod: Wäre es auch authentisch dem Kind zu sagen: „Für mich, als ich noch Kind war, war  das ganze Thema noch sehr beschämt und es ist eigentlich eine schöne Entwicklung, dass es heute nicht mehr so ist, aber daher ist es für mich auch nicht  immer einfach, dich aufzuklären.“ Oder ist das too much information?

Tina Reigel: Nein, das ist authentisch, das ist genau richtig. Dann kommen vielleicht auch Fragen, wieso das so ist. Und da beginnt ja auch schon wieder die Selbstreflexion. „Warum warst du eigentlich beschämt?“ Und da kann man sagen: „Ja, ich weiss eigentlich auch nicht, ich bin so aufgewachsen und jetzt finde ich das auch megaspannend und auch wichtig, dass es anders ist.“ Und da einfach im Miteinander sein, denn, es kann ja auch sein, dass man dann überengagiert ist, weil man findet: „Ui, bei mir war das so schambehaftet, ich möchte unbedingt, dass mein Kind sich frei entwickeln kann und nicht so beschämt sein  muss.“ Und dass man darum dem Kind dann alles Mögliche anbietet. Das ist auch nicht die Idee, sondern es gibt Kinder, die wollen das sehr intensiv, die fordern es auch ein, wollen wissen, stellen Fragen und andere weniger. Also dass man da immer achtsam ist im Kontakt mit    dem Kind. Meistens, wenn sie genug haben, laufen sie davon oder spielen weiter. Das ist so ein Signal, dass du merkst: „Okay, es ist gut für den Moment.“

Ellen Girod: Ich finde es immer so schön, wie du über Sex redest. Aber du bist natürlich Sexualpädagogin und hast dich mit dem Thema befasst, auch akademisch usw. Die wenigsten Eltern können das, das ist ja auch noch in unserer Kultur oft so. Eine Freundin z.B. hat gesagt: „Das ist  immer so ein bisschen schambehaftet. Sex, das ist ein Thema, über das man nicht spricht und wenn man das macht, dann hat das was Schmuddeliges, dann gehört man zu diesen Leuten, die irgendwie ein Problem haben.“

Tina Reigel: Oder die sich nicht abgrenzen können…

Ellen Girod: Ja genau. Kennst du das?

Tina Reigel: Ja, ich muss dir ganz ehrlich sagen, also, in meinen vorherigen Arbeitsfeld  als Sozialpädagogin hatte ich auch teilweise mit Sexualpädagoginnen oder Sexualpädagogin zu tun, da war ich echt auch so, dass ich dachte: „Wie wird man das, was macht man da?“ Also auch in der Ausbildung: „Was erzählt man sich denn da? Also das ist voll schräg.“ Das hat aber schon auch damit zu tun, wo das abgespeichert ist in uns oder was verstehen wir, wenn wir Sex hören? Da verstehen die allermeisten Geschlechtsverkehr oder es gehen Bilder ab. Und auch die Pornoindustrie hat hier ihren Beitrag geleistet, was man da innerlich sieht. Dabei ist Sexualität noch so viel mehr! Und dann verliert es auch ein bisschen an dieser Schmuddeligkeit oder an diesem Hemmungslosen oder dass man das Gefühl hat, darüber kann man doch nicht sprechen: Wenn man die Palette aufmacht und schaut, was denn Sexualität eigentlich alles ist.

Ellen Girod: Wenn du sagst „Sexualität ist noch so viel mehr“, kannst du da noch ein paar Beispiele   bringen, was du konkret meinst? Denn ich glaube, das wäre für die Hörerinnen noch spannend.

Tina Reigel: Das ist auch einfach Kuscheln, Körperlichkeit, Zärtlichkeit, Streicheln, auch Genussvolles, z.B. in Verbindung mit gutem Essen. Oder auch eine knisternde Atmosphäre gehört in den Bereich Sexualität. Intimität, Vertrautheit, Sinnlichkeit. Und eben auch die Körperwahrnehmung: Spüren, dass man sich anspannen kann, dass man entspannen kann,  das Spiel mit Nähe und Distanz. Also noch ganz viel mehr. Und wenn man von diesem Fortpflanzungsakt ein bisschen weggeht, dann merkt man: „Ah ja, das ist auch identitätsstiftend: Wer bin ich, männlich, weiblich, divers? Was bin ich für ein Mensch? Wie fühlt sich mein Körper an?“ Das ist auch alles Sexualität. Und bei den Kindern  geht eben sehr vieles über den ganzen Körper, also wirklich so mit allen Sinnen kann man Sexualität erleben, und das bleibt im Erwachsenenalter auch so, aber Kinder sind halt einfach „fadegrad“, also die spüren das, die fordern das ein, die sind egozentrisch unterwegs und das sind wir uns nicht mehr so gewohnt als Erwachsene.

Ellen Girod: Aber noch mal ganz kurz, um bei uns Eltern zu bleiben, denn du hast ja gerade diese Kurse angesprochen, wo man sich da gemeinsam die Vulven anschaut. Ich habe  da auch schon Dokus gesehen. Was bringt das? Da fragen sich jetzt sicher ganz viele: „Muss ich das jetzt auch machen als moderne Mutter, wenn   ich mein Kind gut sexual erziehen will? Muss ich mir da jetzt so einen Kurs buchen? Worauf muss ich achten, dass es auch tatsächlich nicht schmuddelig wird?“ Kannst du da ein bisschen erzählen?

Tina Reigel: Nein, musst du nicht. Also es ist nicht so, dass das dazu gehört und wenn du das abgehakt hast, dann kannst du gute Sexualerziehung machen, überhaupt nicht. Da muss man ja auch schauen: Wo fühlt man sich wohl? Wo zieht es einen hin? Und dann muss man sicherlich darauf achten: Was sind das für Angebote, sagt mir das zu? Fühle ich mich bereit? Und da kann man schon für sich selbst überlegen: Was habe ich für Normen und Werte und Prägungen? Was finde ich normal oder nicht normal? Für das muss man nicht direkt in einen Vulva-Anschau-Kurs. Aber es schafft natürlich Verbindung zum eigenen Körper, wenn da irgendwie Blockaden sind.

Ellen Girod: Warst du schon mal in so einem Kurs?

Tina Reigel: Ich selbst nicht, nein.

Ellen Girod: Aber du weisst, was man da macht?

Tina Reigel: Ja genau, ich habe eine Bekannte, die das auch anbietet.

Ellen Girod: Und sie ist auch Sexualpädagogin oder was ist das quasi für ein „Fach“?

Tina Reigel: Sie hat eine Tantra-Ausbildung, sie hat Tantra-Massage gemacht und dann Beratung, therapeutisches Setting. Da würde  ich auch darauf achten: Das kann man ja in so einem therapeutischen Setting auch  machen, wo dann vielleicht auch noch Gespräche dazu gehören, das ist jedoch überhaupt kein Muss. Aber bei vielen Frauen nach einer Geburt gibt es Blockaden im Genitalbereich, weil man Verletzungen hat, und dann wieder diese Hürde zu übertreten, damit man wieder in eine genussvolle Sexualität gelangen kann, sei es mit Solo-Sex oder partnerschaftlich, ja, da gibt es dann manchmal wirklich Schwierigkeiten, die man aber überwinden kann, wenn man sich bewusst damit auseinandersetzt. Da wäre das zum Beispiel eine Möglichkeit.

Ellen Girod: Dann werden wir das auf jeden Fall verlinken, wenn du den Kurs empfehlen kannst. Und jetzt für die Hörerinnen aus Deutschland, wonach müssen sie googeln, wenn sie einen solchen Kurs buchen wollen oder sich informieren wollen?

Tina Reigel: Da gibt es ganz verschiedene Begriffe. Also, da würde ich wirklich einfach  darauf achten, was die Person, die es anbietet, noch für einen Hintergrund hat, oder wo das von der Örtlichkeit her ist. Da gibt es zum Beispiel die Yoni-Massage. Yoni ist ja auch ein Begriff für Vulva. Oder eben im Bereich der Tantra-Massage, das hat auch so einen schmuddeligen Hauch. Da habe ich mich aber belehren lassen, jetzt auch in der Ausbildung, weil da einige Erfahrung damit haben, dass es eben eigentlich einen falschen Ruf hat. Es geht um die ganzkörperliche Massage und man hat danach ein anderes Empfinden in Bezug auf den Körper. Es gibt auch Gruppenorgasmen oder Yoga-verknüpfte Kursangebote, wo es um die Genitalität geht oder um das ganzkörperliche Lustempfinden. Da kann ich dir jetzt nicht einen Begriff nennen, nachdem du  suchen kannst. Ich würde einfach darauf achten: Wer bietet das an? Und vielleicht mit einer Kollegin oder einem Kollegen hingehen, das gibt auch ein bisschen Sicherheit.

Ellen Girod: Was ich an der ganzen Bewegung sehr sympathisch finde, ist, dass es auch sehr „empowerend“ ist für Frauen. Denn es geht ja wirklich viel mehr um die weibliche Lust, um die Entdeckung der Vulva, der Klitoris. Auch in der Pornoindustrie gibt es ja diese Entwicklung, dass man weggeht von diesem Fokus auf den Mann (und  dann spritzen und möglichst noch ins Gesicht der Frau, also auch teils sehr erniedrigende Praktiken). Da gibt es ja z.B. die Erika Lust, die sich auf Pornos für Frauen spezialisiert hat oder es gibt auch dieses Berliner Startup „Femtasy“, das unheimlich erfolgreich ist mit seinen erotischen Hörbüchern. Denn das sind ja auch Dinge, die auch Frauen sowie Paaren oder Eltern sehr gut tun können, um die eigene Sexualität zu entdecken. Gibt es solche Angebote oder so etwas wie „gute“  Pornos für Kinder oder Jugendliche?

Tina Reigel: Porno für Kinder ist ja sowieso nicht erlaubt, unter 16 ist das ja strafbar. Wir brauchen  das einfach für den Aufklärungsunterricht, aber für die Oberstufe, also ab der 7. Klasse, da gibt es so animierte Filme, denn das darf man sonst ja nicht zugänglich machen in der Schule.

Ellen Girod: …das sieht ja dann auf dem Pausenplatz immer ganz anders aus, wenn sie sich die YouTube- Filmchen austauschen…

Tina Reigel: Genau, das ist ja auch so der Triggerpunkt teilweise für Eltern, es schockiert sie ein bisschen: Über Pornos sprechen. Das ist so ein riesen Tabuthema,     aber Fakt ist, dass zum Teil bereits 12-Jährige schon solche Dinge geschickt bekommen, sich solche Filmchen anschauen. Das geht ja ganz schnell eben auf dem Pausenplatz, wie du sagst, und auch da: Lieber wir klären auf, als dass sie dann in etwas hineinlaufen. Ja, das ist so irritierend, wenn man dann diese Bilder sieht, weil    da etwas im Körper abgeht, diese Filme sind ja ausgerichtet darauf, dass diese Erregung gleich stattfindet im Körper und das passiert auch bei den Kindern, die merken „wow, da ist aber etwas los“, aber sie sind gleichzeitig auch schockiert und das kann sehr verstörend  sein. Deshalb lieber aufklären. Wie gehen sie mit Medien um? Da ist ja auch die Medienkompetenz drin: Wie können sie sich abgrenzen? Wo können sie sich melden? Deshalb: Es gibt nicht gute Pornos für Jugendliche. Also ich kenne jetzt kein Portal für 18-Jährige, wo ich jetzt sagen kann, schaut doch mal dort. Ich kenne noch Arthouse Vienna, das ist auch so feministischer Porno, wo mehr so der Beziehungsaspekt drin ist, oder das Spiel mit der Lust auch sichtbar ist und eben Konsens sichtbar wird. Es ist einfach nicht so einseitig wie in den gängigen Pornos, die wir kennen.

Ellen Girod: Denn es ist ja auch oftmals so ein furchtbares Frauenbild, das da in diesen YouTube-Videos oder in diesen „Pausenplatz-Pornos“ propagiert wird.      Die Frage ist ja: Wie kann man da als Eltern gegensteuern? Du hast mal so schön gesagt: „Die heutigen Jungs können ja nichts fürs Patriarchat.“ Vielleicht können wir da nachher noch darüber sprechen.

Tina Reigel: Ja, es ist schon so, also ich beispielsweise, als Mutter von zwei Jungs, aber  nicht nur wegen dem, sondern auch eben wegen meinem ganzen Ausbildungshintergrund, denke manchmal, dass jetzt die Bewegung der Vulva sehr wichtig ist, und wirklich, keine Kritik daran, das ist wirklich sehr bestärkend und unbedingt wichtig. Aber man spricht oft von den Tätern, welche hauptsächlich Männer sind, was auch so ist; aber die Jungs, die jetzt hier sind, die dürfen doch eigentlich gleichwertig aufwachsen und das ist einfach die Aufforderung auch an die Eltern, dass sie präsent sind, dass sie auch die Jungs in den Arm nehmen, trösten, dass die Jungs weinen dürfen, dass die Jungs nicht immer mit Schwertern und Bällen und so den groben Sachen spielen müssen, dass man einfach ein bisschen vielseitiger wird, auch mit den Jungs, dass wir uns von diesen Stereotypen ein bisschen lösen, denn wir fallen oft noch in die Falle, dass wir sagen: „Ach, die Jungs wieder“ oder: „Ach, die Mädchen wieder“. Da denke ich, ist es schon eine Chance, dass wir mithelfen und unterstützen, dass Jungs die Signale ihres Gegenübers auch lesen können, dass sie eben an  der Körpersprache merken: „Ah, da ist Widerstand, da ist ein Nein im Raum“, auch wenn   es noch nicht ausgesprochen ist. Und da braucht es gute Vorbilder auch für die Jungs.

Ellen Girod: Kennst du da konkrete Beispiele von guten Vorbildern?

Tina Reigel: Männliche Bezugspersonen z.B., weil auch in der Schule und in den Freizeitangeboten  sind sehr viele Frauen das Gegenüber der Jungs. Und dass Männer halt auch mal zeigen, wie sie den Haushalt machen oder dass auch mal ein Vater oder eine männliche Bezugsperson weinen kann und dann dem Kind erklärt: „Schau, ich war jetzt grad sehr verletzt, enttäuscht, traurig etc.“, damit die Jungs sehen, dass auch das Männlichkeit bedeutet.    Männlichkeit bedeutet nicht nur Fussball spielen und auf dem Bau arbeiten und so diese Klischees. Also, dass sie da wirklich auch ein diverses Abbild haben.

Ellen Girod: Markus Tschannen, er ist Vater  und erzieht geschlechtsneutral, ist auch Autor und schreibt für den Mamablog des Tagesanzeigers, gab mal ein Interview in der Zeitschrift „Wir Eltern“ und hat erzählt, dass irgendwie an der Schule das Thema war, dass die Lehrerin gesagt hat, Haarspangen seien nur was für Mädchen. Und dann hat er per Zufall ein paar Tage später den Schulausflug begleitet und trug da zwei Haarspangen, eine in den Haaren und eine im Bart…

Tina Reigel: Provokativ, ja.

Ellen Girod: Fand ich höchst sympathisch. Ich hätte gerne gesehen, wie das ankam.

Tina Reigel: Ja, das ist genau der Punkt: Es gibt so viele Sachen, bei denen man sagt: „Das macht man nicht“ oder „du wirst mal ein Herzensbrecher“ oder gewisse Klischees, die wir da schon den Kindern überstülpen. Oder wenn sich Jungs und Mädchen abgrenzen als kleine Kinder, dann sagt man bei den Mädchen „Wow, du bist aber ein taffes Mädchen“. Und bei Jungs, was ja auch verständlich ist und damit zusammenhängt, wie man selbst grossgeworden ist: „Du bist aber wild und grob“. Abgrenzung ist ja für alle wichtig, aber da brauchen die Kinder einfach Begleitung. Dass man sagt: “Okay,   ich sehe du willst gerade nicht, aber schau so oder so kann man das machen“. Das dient den Kindern viel mehr, als wenn wir einfach Zuschreibungen machen und sagen: „Ja, der ist halt ein Wilder“ oder: „Sie ist halt so“. Und das passiert in beide Richtungen. Jungs funktionieren schon rein biologisch vom Körper her: Sie sehen ihr Geschlecht zum Beispiel. Bei den Mädchen ist es viel verborgener, deshalb haben sie von Anfang an einen anderen Zugang zu ihrem Körper. Und trotzdem kann  man versuchen, eine Brücke zu schlagen, das Sich-gegenseitig-verstehen-Können. Gefühlsmässig, aber auch körperlich.

Ellen Girod: Spannend. Du hast auch mal eine Studie erwähnt, in der gesagt wird, dass den Mädchen mehr zugehört wird. Kannst du hierzu noch etwas sagen?

Tina Reigel: Ja, bei einer dieser Lektüren aus meiner Ausbildung hiess es, dass man den Mädchen anders zuhört. Dass man sie viel mehr tröstet oder in den Arm nimmt, wenn sie traurig sind, viel mehr Körperkontakt hat mit den Mädchen, so ab einem gewissen Alter, ab sechs, sieben Jahren. Und Jungs holen sich ihren Körperkontakt mehr mit Rangeln oder Raufen. Oder sie laufen an einem vorbei und treten, stupfen am Arm und eigentlich ist das eine Aufforderung zu Körperkontakt. Und es wird dann aber anders interpretiert, dass man sagt, dass sie grob sind, dass sie schon wieder kämpfen wollen. Eigentlich ist das einfach so ein Ding von Einander-Nahekommen. Das kann man nachher auch verbal begleiten und sagen: „Ah, willst du mir ein bisschen nah sein? Also, was wollen wir? Willst du mit mir eine Kissenschlacht machen? Oder willst du mir auf den Schoss sitzen?“ Aber dass man das nicht einfach bewertet und stoppen will, sondern dem auch Raum gibt und sagt: „Ok, du sendest ein Signal. Was willst du mir damit sagen?“ Da können wir als Eltern auch ein bisschen proaktiv und achtsam sein ˗ auch bei den Jungs. Auch wenn sie vielleicht immer in Bewegung sind und herumrennen; dass wir sie trotzdem auch ab und zu in den Arm nehmen oder sie beim Büchlein-Anschauen fragen, ob sie sich ankuscheln möchten. Dass man das vielleicht anbietet und fragt: „Magst du dich ein bisschen ankuscheln?“ Und wenn sie dann nicht wollen, dann wollen sie nicht. Dann muss man sie nicht dazu bringen aus schlechtem Gefühl. Aber bei den Mädchen macht man das offenbar natürlicher.

Ellen Girod: Wieso? Weil Mädchen anders fragen? Weil sie nicht treten?

Tina Reigel: Ja, genau. Aber natürlich auch nicht alle. Es ist dann halt in einer anderen Art, auch von der Gefühlslage her. Und es ist halt so, dass Mädchen gefallen wollen und angepasst sind. Und sie können sehr schnell die Stimmungen lesen. Das haben sie so intus. Diese Erwartungen sollte man also auch hinterfragen. Mädchen haben auch ganz unterschiedliche Arten und Weisen, wie sie sich zeigen dürfen. Sie müssen auch nicht immer die verschmusten sein. Aber es ist ja oft ein bisschen so, dass man sagt, dass Mädchen ja die Ruhigen sind. Und so macht man ihnen unbewusst schon Zuschreibungen und da passen sie sich dann dementsprechend auch an.

Ellen Girod: Ist das klischeebehaftet oder naturbedingt, die Rolle, diese du da jetzt grad beschrieben hast?

Tina Reigel: Sicher auch sehr klischeebehaftet. Die Erwartung ist, dass das Mädchen zuhause tätig ist und dann später mal hilft, für die Familie zu sorgen. Und die Buben sind mehr nach aussen orientiert, also extrovertierter unterwegs.

Ellen Girod: Das spiegelt sich ja schon den jeweiligen Spielsachen wider: Feuerwehrauto und Polizei versus Puppen und Puppenwägelchen für Mädchen.

Tina Reigel: Genau, das Häusliche wird den Mädchen zugeschrieben resp. in die Wiege gelegt. Aber das machen wir.

Ellen Girod: Wie können wir da als Eltern konkret gegensteuern?

Tina Reigel: Mit achtsamem und gesundem Mass. Je nachdem wie man selbst geprägt ist, hat man natürlich eine andere Vorstellung von einem gesunden Mass. Das hängt auch von der eigenen Prägung ab. Aber sich auch informieren und beim Aussuchen von Spielzeug mal bewusst nach etwas anderem greifen. Mal nicht direkt in die rosarote oder blaue Abteilung steuern – was halt immer noch sehr stark so gekennzeichnet ist, dass rosarot für die Mädchen und blau für die Buben ist – sondern mal versuchen, ein neutrales Spielzeug zu finden. Oder dass man die Kinder auch fragt, was sie sich wünschen, ihre Interessen herausfinden. Und dann gibt es auch immer wieder Kinder, die genau das ganz klischeehaft verlangen: Glitzer und Pink. Und obwohl man als Eltern gern Gegensteuer geben möchte, merken: Mein Kind hat halt grad eine Glitzerphase. Und das ist das auch ok. Und man muss sich nicht schlecht fühlen und sagen: „Oh je, ich habe das nicht so im Griff mit dem Genderneutralen, ich habe etwas falsch gemacht.“ Sondern einfach sagen: „Ja, das ist ok“, und es auf der anderen Seite dann auch den Buben zugestehen und nicht denken, dass nur Mädchen Glitzer wollen. Dass man z.B., wenn man Bastelsachen einkauft, dann vielseitig einkauft, also auch für die Jungs Glitzer kauft oder ein Taschenmesser zuhause hat, auch wenn man nur Mädchen hat, damit, wenn man in den Wald geht, man schnitzen kann etc.

Ellen Girod: Das ist ein spannendes Beispiel. Ich habe auch mal mit einer Mutter geredet, die sich so empört hat, dass ihre Tochter gerne Prinzessinnen hat, denn sie selbst sei ja nicht so. Ich habe da recht viel Druck verspürt, denn wir wollen ja genderneutral erziehen, aber es ist eben nicht so einfach. Man hat dann schon fast ein bisschen die Haltung, dass mit seinem Kind etwas nicht stimmt.

Tina Reigel: Nein, so sollte es auch nicht sein. Und auch die ganze Sexualerziehung. Es soll auf keinen Fall so sein, dass man an Normen rütteln will. Jede Familie hat ihr Normen- und Wertesystem, und man will das in diesem Sinne nicht stürzen. Aber man will einfach neue Impulse geben, sagen: „Wie gehst du damit um, wenn deine Tochter plötzlich nur noch Röckli anziehen will? Von welcher Seite kannst du das anschauen? Was hat es mit dir zu tun? Was hat es mit dem Kind zu tun? Was hast du für Sorgen, was die anderen denken?“ Da spielt ja ganz viel mit. Dass man da lernt, das etwas vielschichtiger anzuschauen und dadurch entspannt sein kann, und es dem Kind zugesteht, sich in seiner Eigenheit zu entwickeln. Das ist dann halt so der Spagat, weil wir ganz viele Angebote schaffen für Kinder. Dieses Angebot kann sehr geprägt und sehr vorgegeben sein. Oder es kann offener sein. Und es wäre unsere Aufgabe, das ein bisschen offener zu gestalten. Sodass sich das Kind mehr nehmen kann von dem, was es braucht. Oder etwas anderes als das, was wir meinen, dass es braucht.

Ellen Girod: Hast du ein konkretes Beispiel, oder eine Anekdote aus der Praxis, wie man das als Eltern offener gestalten kann?

Tina Reigel: Ja, beispielweise beim Kleider einkaufen; dass man, wenn man sich nicht sicher ist, was das Kind gern hat, etwas Neutraleres wählt und nicht so die typischen Einhörnli für die Mädchen oder den Bär für den Jungen. Oder wenn man Spielzeug z.B. aus Holz kauft, dass es nicht schon so eine typische Farbe hat. Dass es einfach nicht schon so vorgegeben ist, wer mit diesen Spielsachen spielt. Oder dass auch Buben zuhause ein Puppenbettli haben dürfen, dass man eben ein bisschen davon wegkommt, dass nur Mädchen mit Puppen spielen. Sondern dass man da ein Angebot macht. Oder wenn man merkt, dass das Puppenwägelchen und das Puppenbettli sehr lange unberührt sind, dass man das dann in den Keller gibt oder es jemandem weitervererbt. Insofern kann man so vielleicht grad auch nachhaltiger Spielzeug besorgen, dass man also nicht einfach Sachen kauft, mit denen dann nicht gespielt wird, sondern vielleicht auch mal zu sagen: „Ihr habt zwei Mädchen, wir haben zwei Jungs, können wir mal dieses Spielzeug ausleihen?“ Und dann steht es vielleicht ein bisschen herum, aber dann sieht man, ob Kinder damit spielen oder nicht. Für Kinder ist es vor allem wichtig zu sehen, dass es für die Eltern egal ist, mit was es spielt. Eigentlich geht es um das.

Ellen Girod: Ich hatte letzthin eine spannende Diskussion mit meiner Tochter. Sie fängt jetzt an zu lesen und interessiert sich für die Kinderbuchreihe Leselöwen. Weil sie sich ein Buch zu Weihnachten gewünscht hat, haben wir ein bisschen nach Themen gesucht und da gibt es wirklich wenig neutrale Bücher. Die Mehrheit, das hat natürlich auch oft mit dem ökonomischen Denken zu tun, richtet sich nach Fussball- und nach Einhorn-Themen, weil das halt einfach konsumiert wird. Und sie meinte dann: „Ah das ist doch so Bubenzeugs“. Das hat mich dann natürlich sehr getriggert, da ich ja versuche, mit meiner Arbeit und allem da so dagegen zu kämpfen und dann habe ich sie zuerst unbewusst so im typischen Elternmodus versucht zu manipulieren und gesagt: „Komm, das wäre doch noch spannend, komm, lass uns das doch probieren“ etc. Und sie hat sich dann voll dagegen gewehrt, weil sie gemerkt hat, dass ich sie da in etwas reinpressen will und sie nicht versteht warum. Ein paar Tage später war ich dann in diesem Bücherladen und habe mich gefragt, weshalb ich mich da so verhalte. Anschliessend habe ich ihr dann erklärt, dass ich zu einer Zeit aufgewachsen bin, wo es klar zugewiesene Mädchen- und Bubensachen gegeben hat. Wir hatten zuvor zusammen das Buch über Marie Curie gelesen. Sie durfte damals nicht in Polen studieren und ist drum nach Paris und war eine der ersten Medizinerinnen und die erste Frau, die den Nobelpreis gewonnen hat. Ich habe meiner Tochter dann erklärt, dass das in meiner Zeit alles viel extremer war als jetzt bei ihr. Und deshalb sei ich so allergisch auf dieses Mädchen- und Bubenzeugs, das nur von diesen Firmen gemacht werde, um damit Geld zu verdienen. Ich habe ihr das dann so erzählt. Sie kennt ja diese Themen von mir. Sie weiss, dass mich das interessiert und wir haben viele von diesen Little-Friends-Büchern, diese Reihe, die eben auch Marie Curie enthält. Und dann habe ich gemerkt, dass das für sie ganz anders war, denn ich habe ihr das dann ganz offen und authentisch und so ein bisschen Jesper-Juul-mässig erzählt. Und ich muss ja immer auch aufpassen, dass ich ihr nicht zu viel von meinem „Pain“ mitgebe. Denn sie wächst ja in einer andern Welt auf, sie erlebt ja nicht die Unterdrückung der Frauen, wie ich sie erlebt habe. Und ich bin da immer sehr achtsam, dass ich sie nicht zu sehr „brainwashe“. Aber ich habe ihr gesagt, dass mir dieses Thema Mädchen-Frauen-Buben-Männer ein wichtiges Anliegen ist, und dass Farben für alle da sind. „Ich merke, wie sich das bei dir so entwickelt und du das mitkriegst von der Schule. Und darum regt es mich so auf. Aber du für dich kannst das lesen, was dich interessiert. Du musst da nicht zu fest auf mich schauen. Aber einfach damit du verstehst, warum mich das beschäftigt.“ Es war dann ein sehr schönes Gespräch.

Tina Reigel: Genau so funktioniert Sexualerziehung. Das war jetzt ein schönes Beispiel. Denn es geht wieder um Verantwortungen und wo diese eigentlich hingehören. Wessen Thema ist es? Und das ist bei vielen Sachen so. Auch wenn man dann Teenager hat, man ist nicht mit allem einverstanden. Aber dass man da ein bisschen preisgibt, woher die eigenen Sorgen kommen, die eigenen Ängste. Und dann sagen: „Schau, das sind meine Ängste. Aber trotzdem: „Ich sehe dein Interesse, ich sehe, wo du dich bewegst. Wie können wir zusammen im Gespräch bleiben?“ Und wenn diese Basis schon früh gegeben ist, dann ist egal über welches Thema, seien es Buben-Mädchen-Themen oder was auch immer: Das Kind merkt, hey, ich darf darüber reden. Man ist sich manchmal nicht einig, hört sich aber zu und versucht, sich anzunähern, das ist wichtig nachher für die Teenager-Zeit, wo sie sich eh abgrenzen wollen und nichts von einem wissen wollen. Aber wenn das Gras gesät ist, dann stehen die Chancen gut, dass sie auch dann noch das Gespräch suchen. Das ist keine Garantie, aber ein Grundstein, den man legen kann. Und was auch noch wichtig ist zu dieser ganzen Gender-Thematik, grad im Kindergartenalter oder eben in der 1. und 2. Klasse: Sie merken, da sind Unterschiede. Daher sind Doktorspiele so wichtig, weil sie eben sehen wollen: „Wie sehe ich aus? Wie sieht mein Gegenüber aus? Ah, da hat es das Gleiche dran wie bei mir, sieht aber doch ganz anders aus… ah spannend.“ Dann auch zu merken, dass man verschiedene Interessen hat. Und das ist noch nicht so sehr an die Thematik „Buben-Mädchen“ geknüpft und an die Rollenbilder. Aber dann sehen sie auch schon körperlich, dass es Unterschiede gibt. Und nachher in der 1., 2. Klasse, da kommt dann ganz stark dieses „Mädchen sind doof“, „Buben sind blöd“, „du gehörst nicht in unser Team“ etc. Das ist für uns, für unsere Elterngeneration ganz schwierig, weil wir ja immer sagen „nicht diskriminieren“, „Liebe ist für alle da“. So all diese Schlagwörter, die wir haben und die wir leben wollen und die wir auch weitergeben wollen. Das ist aber auch natürlicherweise bei den Kindern drin, denn das ist auch sehr identitätsstiftend. Die müssen schauen: „Wer bin ich? Wo gehöre ich dazu? Wir Mädchen gehören zusammen und du gehörst nicht dazu.“ Das verbindet dann auch wieder sehr. Das ist so eine Phase, die auch wichtig ist: Man darf sich abgrenzen, man muss nicht alle gern haben, darf auch jemanden sehr doof finden. Und da ist das schwierig für uns mit unserer Sensibilität, das auszuhalten. Weil da die Angst aufkommt, dass mein Kind vielleicht jemanden diskriminieren will. Und das wollen wir ja nicht. Auch hier muss man ins Gespräch gehen und sagen „Gell, du willst jetzt nicht mit dem spielen, und das ist ok. Aber das kann man machen, ohne dass man jemanden verletzt. Man darf sich abgrenzen und man darf sogar jemanden unsympathisch finden. Aber WIE man das mitteilt, ist wichtig.“

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Ellen Girod: Und WIE kann man das konkret mitteilen?

Tina Reigel: Nur schon zuhause: Indem man zuhause nicht sagt: „Ach komm, die hat das doch jetzt nicht so gemeint.“ Das ist mal schon der erste Schritt, dass Eltern ihre Kinder ernst nehmen und sagen: „Ok, ich sehe, dass dich das jetzt nervt und du musst dich ja jetzt grad nicht mit dieser Person treffen.“ Und das andere ist, Kinder zu bestärken, dass sie das mitteilen dürfen, dass sie jemandem auf dem Pausenplatz sagen können, dass sie jetzt grad nicht das Znüni mit ihm teilen wollen. Das ist ja auch das, was wir schon bei den Kleinen anfangen. Dass wir sagen, doch, wir tun jetzt alles teilen. Teilen ist ja auch so ein Wert, den Eltern von kleinen Kindern haben. Teilen ist etwas Wichtiges und etwas Schönes. Aber andererseits ist es auch wichtig, dass man lernt, zu sagen: „Hey, das ist meins und für das darf ich auch einstehen und das darf ich auch für mich behalten.“

Ellen Girod: Wir haben vorher über die Phase der Doktorspiele gesprochen, das ist ja ein Thema im Kindergarten und auch schon in der Kita. Und wir haben ja schon mal über die Masturbationsräume in der Kita geredet. Ich habe auch mal gehört, dass es in den USA Masturbationspausen gibt für Mitarbeitende. Kannst du da noch erzählen, was das genau ist, das mit den Masturbationsräumen in den Kitas?

Tina Reigel: Ich habe mal einen Bericht gelesen, dass es auch in Deutschland solche Masturbationszimmer gibt, und das ist den Leuten natürlich extrem aufgestossen und hat zu diskutieren gegeben. Allein schon der Begriff „Masturbation“, und hier sind wir schon wieder bei der Erwachsenenbrille: „Das machen doch Kinder nicht.“ Das ist schon mal der erste Punkt: Zu wissen, dass Kinder auch masturbieren. Selbststimulation tönt manchmal bereits etwas verträglicher, es tönt nicht so schmuddelig, sondern eher nach „sich schöne Gefühle machen“. Masturbation tönt für einige Leute so getrieben, da geht man sich ganz bewusst Befriedigung holen, und das hat dann mit Sexualität in diesem Sinne zu tun. Aber für Kinder ist es einfach so, dass sie sich berühren und merken, sie können damit schöne Gefühle auslösen. Und darum jetzt wegen diesem Raum, das ist in der Schweiz nicht so verbreitet. Die Idee wäre einfach, das Wissen zu haben, dass Kinder sich selbst stimulieren; sie sind ab Geburt dazu in der Lage, und die einen machen das mehr und die andern weniger oder gar nicht. Und wenn sie das machen, dann ist es uns wichtig, dass sie einen geschützten Ort dazu haben. Dass sie das eben nicht inmitten von spielenden Kinder machen, also neben der Küchenecke auf dem Boden auf der Hand liegen z.B. und gegen die Genitalien drücken oder sich an einer Stuhllehne reiben oder Ähnliches, sondern dass man ihnen dann aufzeigt: „Wir sehen dein Bedürfnis, das darfst du, das ist auch völlig ok, aber schau, hier ist der richtige Ort dazu und da bist du auch geschützt vor Mitarbeitenden und vor anderen Kindern und nachher kommst du wieder raus.“

Ellen Girod: Aber wie kann man sich das konkret vorstellen? Ist das ein kleines Räumchen, in dem das Kind dann alleine ist? Hat es eine Aufsicht?

Tina Reigel: Nein, das wäre wie so eine Ruhe-Ecke, wie dort wo sie schlafen z.B., es hätte eine Matratze, und das ist dann der Ort, wo man dann spielen gehen oder einfach sein darf. Aber eben bei der Durchführung, da ist dann auch wieder die Frage: Wie gut ist das Personal aufgeklärt und geschult? Was gibt es für ein Sexualkonzept in der Kita? Wie ist der Personalschlüssel? Wenn jetzt ein Kind in einem Räumli ist für sich, wie ist es mit der Sicherheit? Da spielen viele Faktoren hinein.

Ellen Girod: Das tönt ja total wertschätzend den Kindern gegenüber, aber der Zeit wahrscheinlich noch etwas voraus. Ich kann mir vorstellen, dass die Wogen in den Kommentarspalten hochgegangen sind…

Tina Reigel: Ja, das gleiche mit einem Ort für Doktorspiele im Kindergarten…

Ellen Girod: Das gibt es auch in Deutschland?

Tina Reigel: Ja, vereinzelt und zum Teil auch hier. Wir haben das auch in der Ausbildung besprochen, dass das eigentlich zu bedenken wäre für den Kindergarten. Weil das eben dort so stark ein Thema ist. Und es ist auch ein Entwicklungsthema der Kinder. Und anstatt dass man verbietet und versucht zu begrenzen, dass man ganz klar sagt: „Schaut, hier ist der Ort, wo ihr Doktorspiele machen dürft und wo es auch ok ist, wenn ihr mal ein Kleidungsstück auszieht.“

Ellen Girod: Aber wahrscheinlich auch mit Regeln…

Tina Reigel: Ja, klar, sie müssen die Regeln wissen. Aber Kinder wissen ja auch. Sie dürfen nicht rennen im Kindergarten, sie müssen Finken anziehen, sie dürfen sich nicht schlagen etc. Aber für dieses eine sehr relevante Thema, das die Kinder sehr interessiert in dem Alter, gibt es keine ausgesprochenen Regeln. Darf man zueinander aufs WC gehen, ja oder nein? Wie macht man das bei uns im Kindergarten? Und von wegen Kommentarspalten, die explodieren: Das ist natürlich für die Eltern schwierig. Die Eltern müssen da wissen, dass die, die das durchführen und in ihren Kindergärten oder Kitas anbieten, dass die voll und ganz mit dem Thema vertraut sein müssen, sie müssen den Schutz gewährleisten. Das ist sehr wichtig.

Ellen Girod: Also wie ist deine Haltung, bist du für Masturbationsräume in der Kita bei entsprechender Aufklärung vom Personal? Je nach Aufklärung vom Personal?

Tina Reigel: Ja genau, also ich würde es einfach nicht so nennen. Ich würde auch nicht einen Raum dafür gestalten, aber dass es vielleicht eine Ecke hat, so etwas Ähnliches wie eine Büchli-Ecke. Es kann auch ein Vorhängli dazu geben. Also nicht ein separates Zimmer, aber einfach ein Ort, der blickgeschützt ist. Wenn man sieht, hier ist ein Kind, das grad etwas angespannt ist und sich versucht zu beruhigen ˗ was ja sehr damit verbunden ist ˗ dann darf das hier in diese Ecke um sich zu beruhigen und ich bin dann hier einfach so ein bisschen präsent. Von dem her, da bin ich schon dafür, dass man dem Raum gibt. Grad auch Kinder, die einen Grossteil in der Kita verbringen, da braucht es halt einfach Raum. Bei grösseren Kindern kann man vielleicht sagen, dass sie das daheim machen können. Aber für die ganz kleinen Kinder ist das halt schwierig. Das ist da vor allem auch der Hintergrundgedanke: Die können das nicht einfach zuhause machen.

Ellen Girod: Auch schon die Awareness, dass man das Kind nicht einfach machen lässt auf dem Rössli auf dem Spielplatz, und man sich im besten Fall noch darüber lustig macht, sondern dass man wertschätzend und respektvoll nicht verbietet, sondern den Raum gibt. Das ist gar nicht so einfach. Du hast auch einmal erzählt, dass es sogenannte „Fluch-Ecken“ gibt in der Schule. Grad so in der Zeit, wenn die Kinder in die „Fuck-you-Phase“ kommen. Wenn sie es dann auch sehr spannend finden, wie die Eltern, Erwachsenen oder Lehrpersonen damit umgehen. Kannst du zu dieser Fluch-Ecke noch etwas erzählen?

Tina Reigel: Nein, ich weiss einfach, wie man es im Privaten machen kann, dass man sagt: „So, jetzt geht mal ins WC und sagt dort alles raus was ihr wisst.“ Aber die Fluch-Ecke in der Schule, die kenne ich nicht. Müsste man ausprobieren.

Ellen Girod: Wie sollen denn Lehrerpersonen damit umgehen, wenn Kinder „fuck you“ sagen?

Tina Reigel: Das kommt halt sehr darauf an, wie alt die Kinder sind.

Ellen Girod: Erste Klasse…

Tina Reigel: Dann schauen, wie die allgemeine Dynamik in der Klasse ist, was dahintersteckt? Was will mir das Kind eigentlich wirklich sagen? Es ist ja eine Provokation. Und dort ist wieder, wie ich vorher gesagt habe, dieser Buben-Mädchen-Unterschied; da ist es dann halt manchmal schon bei den Buben so, dass sie mit Wörtern provozieren wollen. Das ist dann wie früher der Schlag auf die Schulter, wenn sie Konfrontation wollen, und nun ist es die verbale Konfrontation, die Reibung erzeugt. Eigentlich wäre es aber eine Kontaktaufforderung. Schon nur, wenn man da weiss, „ok, du willst mir jetzt etwas sagen, der Weg ist jetzt noch nicht grad so optimal, aber komm, wir schauen uns das mal an, wir gehen mal auf Augenhöhe. Wie wollen wir hier miteinander reden?“ Das ist zum Beispiel auch eine Variante, dass man nicht einfach grad verbietet und sagt: „Hey, fuck you sagen wir hier nicht“, es gibt Strafpunkte etc. Denn so ist das Problem nicht gelöst. Es steckt ja irgendein Bedürfnis oder eine Absicht hinter dem Verhalten. Provokation ist einfach so ein Überbegriff. Mit dem ist es ja noch nicht gelöst. Das wäre dann grad ein Angebot, dass man sagt: „Welche Wörter lösen was aus? Komm wir sammeln mal.“ Das kann man normal im Unterreicht machen als Lehrperson, dass man es also aufgreift. Oder auch in der sexualpädagogischen Einheit: Dass man einfach mal alle Wörter an die Wandtafel schreibt. „Was hört ihr so? Was kommt euch so zu Ohren auf dem Pausenplatz?“ Dann darf man das mal aussprechen. Dann wird es ein bisschen lockerer, vielleicht sogar ein bisschen lustig. Dann sieht man das mal vor sich. Und dann fängt man mal an durchzustreichen. Was hat in der Schule vielleicht eher weniger Platz? Was kann man zuhause sagen? Einfach so ein bisschen zuordnen, darüber reden. Und Kinder sind ja clever und interessiert, wenn sie merken, da ist jemand, der nicht nur abblockt, sondern jemand, der mit uns in den Austausch geht, dann kann das sehr spannende Gespräche geben. Und dann geht es schlussendlich gar nicht mehr ums „fuck you“.

Ellen Girod: Das ist dann wieder der berühmte Spruch, dass wenn dein Kind sagt „spiel mit mir“ oder „lies mir das Buch vor“, dann ist das nichts anderes als einfach zu sagen: „Ich habe einen schwierigen Tag gehabt, nimm dir Zeit für mich“. Das ist ja bei uns Erwachsenen auch so. Ein berühmtes Beispiel sind da Paare, die sich über die unaufgeräumte Wohnung streiten. Die Frage ist ja: Um was geht es wirklich? Es geht ja nicht um die Zahnpasta-Tube, die vertrocknet, sondern um etwas, was sonst nicht stimmt in der Beziehung.

Tina Reigel: Ja genau. „Ich fühle mich grad nicht so gesehen von dir, ich möchte gern mehr Zeit mit dir verbringen“ etc.

Ellen Girod: Das ist bei Kindern genau gleich.

Tina Reigel: Ja, das ist bei Kindern auch so. Und klar, je nachdem, in welchem System sie drin sind, z.B. der Schulunterricht, der muss funktionieren. Und da kommen natürlich all die vielen verschiedenen Ansprüche wie „hier wird niemand diskriminiert“ etc. Wir haben ja mittlerweile auch ein grosses Bewusstsein dafür: „Was möchten wir hier?“, „wir möchten genderneutral sein“ und alles Mögliche, und dann haben wir Kinder vor uns, die pubertierend sind, die Reibung suchen mit Fragen wie „wer bin ich?“, „wer bist du?“, die sich von den Erwachsenen abgrenzen wollen, die Annäherungsversuche starten beim Gegenüber, die wissen wollen, „bin ich normal oder nicht?“ und „was ist denn normal?“ etc. Und da brauchen sie viel Unterstützung von uns. Und es hilft viel mehr, wenn man versucht, zu verstehen, was gemeint ist, als einfach Regeln aufzustellen.

Ellen Girod: Aber was kann man machen, wenn man ein Kind hat, das die ganze Zeit „Fuck you“ sagt? Wie kann man als Eltern dieses Kind besser verstehen? Grad bei Buben, wenn es darum geht, man will Gefühle…

Tina Reigel: Je nachdem kann man auch schon in der Familie schauen: Wie sind wir im Moment grad unterwegs? Wenn das immer wieder kommt: Ist vielleicht unser Tempo im Alltag etwas hoch? Wieviel Platz hat Chaos? Oder wie viel unorganisierte Zeit gibt es eigentlich in unserem Alltag? Wer kann alles zuhause mitbestimmen? Wer entscheidet, was eingekauft wird? Was sind die Regeln unseres Zusammenlebens? Vielleicht auch einfach: Hat das Kind genug Platz? Braucht es mehr klare Führung? Braucht es mehr Orientierung? Braucht es mehr Mitsprache? Würde sich vielleicht mal eine Familiensitzung lohnen, dass man sich hinsetzt und sagt: „So, jetzt sammeln wir mal Themen: Wie wollen wir hier zusammenleben?“ Und dann gibt es aber manchmal auch Kinder, bei denen es aus diversen Gründen schwierig ist, wo die Eltern wirklich an den Anschlag kommen, wo sie sich auch therapeutische Unterstützung holen dürfen. Da kann man auch nicht die Erwartungen an die Eltern so mega hochschrauben, dass man sagt: „Hey, wenn du dir genug Zeit für dein Kind nimmst, dann läuft es supereasy in der Spur.“ Das ist ja auch eine falsche Erwartung. Das macht grossen Druck. Weil dann sagt man sich: „Aber hey, ich bin doch hier und höre zu und probiere alles…“

Ellen Girod: Ja, das ist dann noch schlimmer für das Kind.

Tina Reigel: Manchmal braucht man halt einfach einen Anstoss von aussen. Und das ist voll ok, wenn man sich diesen holt. Das sind einfach so Ideen, die ich jetzt aufgezählt habe, wo man hinschauen könnte. Und dann dem Kind bei gewissen Wörtern und Sachen auch ganz klar sagen: „Hey, das akzeptiere ich nicht, das ist verletzend. Es gibt noch ganz viele andere Wörter die du benutzen kannst, wenn du hässig bist. Du kannst das ausdrücken oder mitteilen, vielleicht so oder so oder so. Oder lass uns zusammen Ideen suchen. Aber das akzeptiere ich nicht.“ So sind die Formen des Zusammenlebens: Da gibt es halt wirklich diese bekannten Wörter, die nicht okay sind.

Ellen Girod: Vielleicht trotzdem nochmal zurück zum Thema „Gefühle statt Funktion“ bei Buben. Du hast mal gesagt, dass es auch ok sein sollte, wenn sich Jungs bei Liebeskummer vom Unterricht abmelden können. Würdest du dafür plädieren?

Tina Reigel: Ja, unbedingt. Aber Buben wie Mädchen. Vielleicht müssen es einfach Buben umso mehr hören, dass wenn man verletzt wird, zurückgewiesen wird, in jemanden verliebt ist, Schwärmereien hat und das nicht ankommt, dass man das nicht überspielen muss und cool sein und sagen muss: „Ach das ist doch nicht so schlimm, ich habe noch viele Chancen“ o.ä. Das wäre dann wieder dieses Männerbild, wo man denkt: „Ich bin gar nicht darauf angewiesen.“ Aber nein, es ist sehr schmerzhaft, wenn man zurückgewiesen wird. Da hat man auch nicht Lust, so weiterzumachen und so zu tun, als wäre nichts. Da darf man auch mal einen Tag zuhause bleiben.

Ellen Girod: Das Thema „Gefühle“ ist ja in unserer Gesellschaft sowieso langsam im Aufwind, Stichwort „emotionaler Intelligenz“ und die Wichtigkeit von Gefühlen. Grad in der Schweiz leben wir ja in einer unglaublich arbeitsethischen Gesellschaft, und ich hatte auch mal den Fall, dass meine Tochter aus irgendeinem Grund sehr traurig war und ich wusste, dass es nichts bringt, sie am Nachmittag in den Kindergarten zu schicken. Ich habe das der Lehrerin auch ganz ehrlich mitgeteilt, ihr den Fall geschildert und ihr gesagt, dass ich sie gerne zuhause behalten möchte. Das Zuhause-Bleiben war dann auch gar kein Thema. Aber als dann das Nachbarsmädchen gekommen ist, um sie abzuholen und ich ihr erklärt hatte, dass meine Tochter traurig ist und daher nicht in den Kindergarten kommt, da war das für mich schon sehr eigenartig, denn normalerweise bleibt ein Kind ja nur zu Hause, wenn es krank ist und 40 Grad Fieber hat, denn sonst denkt man ja grad ans Schwänzen. Und dann bist du ein schlechter Mensch. So bin ich erzogen worden und aufgewachsen, und das ist für uns Eltern, die dies nun lernen, auch nicht so einfach. Aber die Frage ist, ob das dann von den Kindern nicht ausgenutzt wird.

Tina Reigel: Ja, ich glaube genau das ist so die Angst, die dahintersteckt. Und vielleicht, wenn es ungewohnt ist, dann sagen wir am Anfang „komm, wir probieren es nochmal.“ Aber da steckt eben auch wieder die Haltung dahinter. Wenn du spürst, dass dein Gegenüber ein richtiges Interesse an dir hat und Vertrauen in dich hat und weiss „wenn du mir sagst, dass es dir nicht gut geht, und du spürst ja deine Gefühle richtig, dann glaube ich dir das auch“, basierend auf der Haltung „du kennst deinen Körper am besten, dann darfst du zuhause bleiben.“ Und klar, das muss man vielleicht auch thematisieren, wenn das einreissen sollte, dann müsste man nochmal die Regeln anschauen. Aber das ist halt auch im Schulsystem, das so getaktet ist, schwierig, auch für die Lehrpersonen. Da fehlt schlichtweg die Zeit, um mit jedem Einzelnen ins Gespräch zu kommen. Aber: Wenn Kinder merken, dass man sie ernst nimmt, da habe ich das Gefühl, dann würden sie das nicht ausnutzen, denn sie wissen ja, dass das zu ihren Gunsten ist. Das ist ja dann das Interesse am Gegenüber, das einem seine Gefühle zugesteht; man weiss ja dann, dass es das Gegenüber gut meint mit einem. Das ist dasselbe wie mit der Menstruation, wenn man Mädchen, die nicht am Sport teilnehmen können, immer das Gefühl gibt, sie simulierten sowieso und denkt: „Ach, die Mädchen mit ihrer Menstruation und jetzt kommt da sicher wieder eine, die nicht mitturnen will…“ Dann wird das viel mehr ausgenutzt, als wenn man das ernst nimmt und eine klare Haltung da ist und man sagt: „Ich weiss, dass ihr das habt und dann fühlt man sich nicht so gut und dann mag man vielleicht auch nicht Sport machen. Teilt es mir bitte so und so mit, dann ist das kein Problem“. Grad im Zusammenhang mit der Menstruation weiss ich von Schulsozialarbeiterinnen, dass da gute Erfahrungen gemacht wurden. Dass sie bspw. anfangen, Hygieneprodukte auf der Toilette zu haben. Da hatte man ja auch Angst, dass sie die dann leeren und nach Hause nehmen oder das WC damit verstopfen. Das sind oft so die Unterstellungen. Aber nein, die Mädchen sind froh, denn dann muss man das nicht so im Versteckten machen oder eine Kollegin fragen. Und ja, die Produkte bleiben wo sie sind. Das ist vielleicht am Anfang so, wenn das neu ist, dass man denkt, man könne da mal ein bisschen was mitnehmen. Aber irgendwann ist das halt ganz normal und es benutzen die, die es brauchen.

Ellen Girod: Das ist ja wie beim Toilettenpapier, das nimmst du ja auch nicht nach Hause.

Tina Reigel: Ja, da muss man ein bisschen umdenken. Und sich fragen: Woher kommt denn die Angst, dass das ausgenutzt wird?

Ellen Girod: Was ist denn da deine These?

Tina Reigel: Dass wir es uns einfach nicht gewohnt sind. Wir können uns da vielleicht zurückerinnern, wie es bei uns gewesen wäre und wissen vielleicht noch sehr vage, dass wir da auch froh darum gewesen wären und das Angebot auch genutzt hätten. Aber ja, ich glaube es ist einfach das Ausprobieren. Und im Gespräch sein mit der Klasse.

Ellen Girod: Wir kommen zum Schluss, Du hast einmal gesagt, dass es ein Teil von Sexualerziehung ist, dass man sich selbst kritisch im Spiegel betrachtet, als Mutter zum Beispiel. Kannst du noch ein bisschen genauer erläutern, wie du das gemeint hast?

Tina Reigel: Ja, es ist ja wie Paul Watzlawick sagt: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Und dasselbe gilt in Bezug auf die Sexualerziehung. Du kannst nicht nicht Sexualerziehung machen. Denn auch wenn du nichts sagst, teilst du etwas mit. Also wenn du jetzt nie in irgendeiner Form über Sexualität redest, dann lernt das Kind: Ah, über das redet man bei uns nicht. Und so lernt das Kind ja auch etwas über Sexualität. Und dann sucht es vielleicht andere Wege, sei es das Internet, später sicher auch peer groups, also Gleichaltrige, Lehrpersonen etc. Die Kinder haben ja Wissen und Fragen, und diese wollen sie ja beantwortet haben. Und dasselbe ist ja bei uns Eltern. Wie gehen wir mit unserem Körper um? Denn der Körper ist das Instrument für die Sexualität und wenn sie z.B. sehen, dass wir uns immer wieder an den Bauch greifen und seufzen „ach, ich sollte etwas machen“, dann können sie das nicht richtig zuordnen und kriegen dieses Gefühl von Unzufriedenheit auch mit. Sie können es zwar vielleicht nicht formulieren. Aber sie merken, dass da nicht so ein wohlwollender Blick oder Umgang oder Zuwendung zum eigenen Körper ist. Sie beobachten einfach sehr viel. Zum Beispiel isst man nicht die ausgewogensten Sachen und klagt nachher. Oder man ist ganz schlank und sagt, dass die Hose wieder viel zu gross oder locker ist, oder dass man wieder mal trainieren sollte etc. Dann merken sie, so geht man also mit dem Körper um. Dass man sich gar nie selbst mal liebevoll den Arm streichelt, oder gut zu sich schaut, sich selbst wichtig nimmt und sagt: „So, jetzt tue ich mir etwas Gutes.“ Oder auch so im Alltag des Elternsein, dass man sagt: „So, jetzt setze ich mich einfach mal hin und trinke einen Tee.“ Aber das ist halt sehr schwierig. Wie wollen wir unseren Kindern mitgeben, dass sie wichtig sind und auf ihren Gefühlshaushalt schauen sollen, wenn wir selbst den ganzen Tag nur umherrennen? Das ist so das Nichtsexuelle an der Sexualerziehung. Wo es nicht um Genitalität geht, nicht um Körperflüssigkeiten und Fortpflanzung, sondern darum, wie gern man den eigenen Körper hat. Wie gern hat man sich selbst?

Ellen Girod: Super Frage. Dann kann man eigentlich zusammenfassend sagen, dass gute Sexualerziehung sein kann, dass man einen Yoni-Gruppen-Massage-Kurs bucht, oder dass man einfach wieder mal joggen geht und sich einen feinen Salat macht und zu sich schaut? Das ist beides ein Teil der Sexualerziehung. Habe ich das richtig verstanden?

Tina Reigel: Ja, das hat beides einen Effekt auf die Sexualerziehung. Die Erziehung bedingt ja ein Gegenüber. Also damit du die Themen des Kindes gut begleiten kannst, musst du selbst gut auf dich schauen. In welcher Form auch immer. Die Yoni-Massage-Group ist jetzt vielleicht der oberste Peak für einige, das wäre dann so die Schocker-Schlagzeile. Das ist kein Muss, es reicht auch, wenn man sich beim Duschen nicht einfach nur abrubbelt, sondern sich bewusst mal ein bisschen einseift. Oder wenn man auf dem WC nicht gleich grad zack-zack weitergeht, sondern einfach mal durchatmet. Da fängt es an. Daneben gehört natürlich gehört auch das Aneignen von Wissen dazu, die Entwicklungsstufen des Kindes zu kennen… Eine Vernetzung von allem.

Ellen Girod: Das war so mein Aha-Moment beim Duschen. Ich habe ja eine Weiterbildung in Achtsamkeit gemacht, bin zertifizierte Achtsamkeitslehrerin. Und Meditation stellt man sich ja immer so vor als das gewissenhafte Meditieren auf dem Kissen und nichts denken. Das ist Quatsch. Für mich als Mutter von zwei kleinen Kinder ist die höchste Form der Meditation eine ruhige Dusche, das Wasser zu spüren, zu hören und alles achtsam zu machen, die Haut zu spüren, voll im Moment zu sein. Das ist meine Meditation am Morgen. Schön, dass du das erwähnt hast. Hast du noch mehr praktische Beispiele und Anstösse oder Anekdoten zum Thema Sexualerziehung und Patriarchat?

Tina Reigel: Ja, vielleicht noch zum Thema Familie oder Paarkonstellation usw.: Dass man mal darauf achtet, was man auf dem Spielplatz so sagt und hört, weil man das dann auch mitgibt. Wenn zwei Kinder z.B. zusammen sind, sagt man: „Ah, ich höre schon die Hochzeitsglocken läuten.“ Das passiert oft, wenn ein Mädchen und ein Junge etwas zusammen machen. Das ist auch wieder das unbewusste Mitgeben von Normen und Werten in Bezug auf das Zusammenleben und in Bezug auf die Sexualität. Kleinste Kinder kriegen das schon mit, dass Mädchen und Junge die „normale“ Kombination ist. Und dass man sich da fragt, was man eigentlich mitteilen will. Oder: „Uh, du bist ja ein rechter Charmeur.“ Oder „Uh, die kleine Diva, die wickelt dich mal um den Finger, die weiss dann mal, wo es langgeht.“ Und da sind wir recht sexualisiert unterwegs. All diese Aussagen haben ja mit Bildern zu tun, was wir ja später in diesen zwei kleinen Menschen sehen. Und wenn es aber darum geht, aufzuklären über die Vulva, so schützt du dich, so funktioniert das und so kannst du dir schöne Gefühle machen und so kannst du mit deinen Verliebtheitsgefühlen umgehen, denn schon kleine Kinder haben das. Da sagen wir dann: „Sicher nicht, kleine Kinder doch nicht.“ Aber wie wir den ganzen Tag solche Floskeln von uns geben… Man meint bei Kindern immer, dass sie das nicht richtig verstehen, aber es pflanzt eben doch so kleine Samen.

Ellen Girod: Ja, das ist so spannend. Man sagt „igitt, Vulva kneten“, aber „ja, Männermagnet“. Oder andere absurde Sprüche. Man hat es einfach so gelernt und sagt es dann aus Verlegenheit. Oder weil man nichts Besseres sagen kann.

Tina Reigel: Oder auch bei kleinen Kindern, die ein Bikini oder ein Röckli tragen, dass man sagt: „Oh du, schön sexy.“

Ellen Girod: Überhaupt. Bikinis für Mädchen.

Tina Reigel: Das ist auch wieder ein Thema für sich. Warum müssen überhaupt kleine Mädchen schon Bikinis tragen? Dort lernt man ja auch schon: „Hey, du musst deine Brust bedecken. Und zwar nicht einfach mit irgendetwas. Sondern es muss auch noch Rüscheli haben oder irgendetwas.“

Ellen Girod: Was sagst du als Sexualpädagogin zu Bikinis für Mädchen?

Tina Reigel: Ich finde das nicht nötig. Auch hier, sie sollten selbst wählen dürfen. Es geht auch eine Paw Patrol-Badehose. Und wenn sich die Brust dann anfängt zu entwickeln, ist es in unserer Gesellschaft halt aktuell so, auch in einer Badi, dass Frauen sich bedecken; das macht man dann zum Schutz des Kindes, weil es darum geht, wo wir uns bewegen. Aus genau diesen Gründen lassen wir ja auch kleine Kinder nicht nackt baden in der Badi, da es um den Schutz geht. Dann können wir fragen: „Was würde für dich passen?“ Aber bei Kindern, bei denen die Brust noch nicht entwickelt ist, finde ich es unnötig. Es ist einfach eine Brust. Wir sexualisieren sie.

Ellen Girod: Männer haben ja früher auch Badeanzüge getragen, und haben sich dann irgendwann davon befreit.

Tina Reigel: Ja genau. Obwohl, wenn ein Mann einen Badeanzug anziehen würde, dann wäre das mega irritierend. Aber eigentlich: Why not? Man findet die Rüscheli mega herzig, aber was hat man denn genau für ein Bild? Eine andere Badehose täte es ja auch. Denn es geht ja darum, dass man darin baden gehen kann. Und auch da ist das so: Man muss das ja nicht von heute auf morgen ändern. Das sind einfach so Floskeln, die wir nun mal so intus haben. Aber dass man eben auch in einem solchen Moment, wenn jemand anderes so etwas äussert, mal nachfragt: „Sorry, sag mal, was meinst du genau damit?“ Aber das wird halt schwierig, denn da kommen wieder Hemmungen ins Spiel bei den Erwachsenen.

Ellen Girod: Grad bei der Grosseltern-Generation, da ist das noch so verankert…

Tina Reigel: Da muss man dann vielleicht lernen, eine Haltung aufzubauen. Dass man da nicht aus Höflichkeit mitredet. Das ist ja dann manchmal das: Dass man da dann auch noch so einen Spruch bringt. Weil man grad nicht weiss, was sagen.

Ellen Girod: Was kann man da machen, dass man da nicht so einen Verlegenheitsspruch macht?

Tina Reigel: Entweder, wenn man es nicht ansprechen möchte, dass man dann einfach „hmm“ sagt  und das Thema wechselt. Es ist ja manchmal auch schwierig, mit jemandem auf dem Spielplatz in so eine Wertediskussion zu geraten. Oder wenn man es sich zutraut und die Beziehung da ist, dass man es auch anspricht, aber sicher nicht noch mitreden.

Ellen Girod: Und bei den Grosseltern, vor denen man ja Respekt hat, aber auch denkt, dass so ein Ansprechen gar nichts mehr bringt, weil sie halt schon alt sind?

Tina Reigel: Ja, wenn das dort ein Thema ist, dann muss man vielleicht wirklich filtern und schauen, was im Vordergrund ist. Die Kinder kennen ja schliesslich trotz allem die Haltung der Eltern von zuhause. Das hat sich ja zuhause etabliert, was so die Haltung ist. Und sie werden mit anderen Wertehaltungen konfrontiert, das gehört dazu. Da muss man sich überlegen, wo man etwas investieren will, und dann halt vielleicht einmal losgelöst von der Situation das Gespräch mit den Grosseltern suchen. Und z.B. sagen: „Mir ist aufgefallen, du klopfst meinem Kind immer auf sein „Windelfüdli“. Das ist ja auch so etwas, dass man den Kindern immer so aufs Füdli“ klopft. Ab einem gewissen Alter hört man dann ja damit auf. Und es ist ja auch wahnsinnig herzig. Das ist so die schwierige Balance zwischen Körperkontakt, der ja etwas vom Wichtigsten ist, für Kinder sowieso, auch für das Bindungsgefühl und alles, denn die Haut ist das grösste Sinnesorgan, und sie profitieren von liebevollen Beziehungen. Aber es gibt doch immer wieder so Sachen, wo man grenzüberschreitend ist, und es einfach auch oft macht, weil man es halt macht, aber man weiss gar nicht genau weshalb. Und das darf man als Eltern auch ansprechen und sagen: „Hey ich weiss, dass du mein Kind sehr gern hast, und ich weiss, es ist sehr herzig, aber bitte hör doch auf, wenn möglich, immer auf das Windelfüdli zu klopfen.“ Das wird bei den Grosseltern zum Teil halt einfach so gemacht. Aber wenn sie es wissen und schon mal gehört haben und man es auch einmal angesprochen hat, dann sind sie meistens schon bemüht, zum Teil.

Ellen Girod: Und was kann man denn machen, wenn die Angesprochenen da so ganz grosse Augen machen?

Tina Reigel: Dann kann man die persönliche Haltung erklären. Und klar, das ist dann wieder eine andere Generation, die das viel weniger gewohnt ist, die das Gefühl hat: „Jetzt übertreibt ihr doch. Jetzt ist dann aber wieder gut.“

Ellen Girod: Cancel Culture…

Tina Reigel: Ja genau, aber dass man einfach sagt: „Ich bin jetzt halt die Mutter von diesem Kind und ich weiss, du hast das anders gemacht und das ist auch voll ok. Aber das ist mir jetzt sehr wichtig.“

Ellen Girod: Also gar nicht unbedingt erklären, sondern bei sich selbst bleiben.

Tina Reigel: Ja, man kann ja auch fragen, möchtest du wissen, wieso? Man muss sie ja nicht überrollen und grad mit allem kommen. Das ist sicher tricky bei Schwiegereltern und Eltern.

Ellen Girod: Und wenn sie nachher wissen wollen warum? Wie sagst du es dann?

Tina Reigel: Ja, dann kann man das erklären und darum bitten, es nicht zu machen, nur weil es ein Kinderfüdli ist. „Ich haue dir ja auch nicht dauernd aufs Füdli.“ Man könnte da also so einen Vergleich anstellen…

Ellen Girod: Wie die Kellner, die den Kindern immer an den Kopf greifen…

Tina Reigel: Ja, das geht so in diese Richtung. Das ist zum Teil kulturell bedingt. Aber dass man die Botschaft sendet: „Ich will nicht, dass du mein Kind nicht mehr berührst. Denn ich sehe, du hast es gern und du sollst diese Zuwendung auch teilen dürfen. Aber vielleicht müssen wir zusammen über das Wie reden.“ Und das dann halt mit Fingerspitzengefühl.

Ellen Girod: Liebe Tina, ich könnte wie immer noch lange mit dir weiterreden. Vielen Dank für das spannende Gespräch.

Tina Reigel: Vielen Dank an dich.

 

 

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