Wut hat ein Imageproblem. Dabei ist sie eine überlebenswichtige Emotion. Je besser wir unsere Wut verstehen, desto besser können wir mit ihr umgehen. Doch was tun, wenn Kinder wütend werden? Unsere Autorin Ellen Girod liefert Anregungen für konstruktiven Umgang mit Wut – für Eltern und Kinder.

Ich las mit meiner Tochter ein Buch. Darin erlebt Simone eine Woche voller Gefühle. Als Simone alleine im Bett liegt und Angst hat, denkt sie an was Lustiges, um sich zu entspannen. Wenn Simone traurig ist, weil ihre Freundin wegzieht, erinnert sie sich an schöne gemeinsame Momente. Und um sich mehr zuzutrauen, schreibt Simone jeden Tag auf, worauf sie heute stolz war. So weit so gut. Dann wird Simone wütend. «Schnell, die böse Wut muss weg!» stand da. Dazu der Tipp, Simone soll nun drei Mal tief ein- und ausatmen.

Tief atmen und alles gut? «So einfach ist das nicht. Wut ist eine überlebenswichtige Emotion. Atmung hat zwar unmittelbar eine sehr gute Wirkung. Doch langfristig ist es wichtig, der Wut zuzuhören.» empfiehlt die Zürcher Psychotherapeutin Linda Rasumowsky «Auch wenn wir als Kinder vielleicht gelernt haben, ihre Signale zu ignorieren, ist es wichtig uns zu fragen: Warum ist diese Wut gekommen?»

Der Wut zuhören, will auch die US-Amerikanische Journalistin Soraya Chemaly. In ihrem Buch Rage becomes her zeigt sie auf, wie die Unterdrückung von Frauen mit der Unterdrückung weiblicher Wut einhergeht. Frauen hätten zwar allen Grund, wütend zu sein: Sexismus, Misogynie, Diskriminierung. Aber weibliche Wut wird nicht gern gesehen: Männern platzt der Kragen, Frauen werden hysterisch bezeichnet. Jungs sollen wild und durchsetzungsfähig sein, Mädchen hingegen lieb und brav. Frauen werden im Berufsalltag doppelt so oft unterbrochen wie ihre Kollegen. Und bei gleichen Symptomen bekommen Männer Schmerzmittel und Frauen Beruhigungsmittel.

Wenn Kinder wütend werden: Wut neudenken

Wie man mit Wut konstruktiv umgeht, zeigt Chemaly am Ende ihres Buches auf. Entsprechende Ideen einfach für Kinder, stellen die beiden Pädagoginnen Sonja Kaemper und Heike Westermann in ihrem Buch Gefühle Entdecken mit dem Grüffelo vor. Hier kommt eine Synthese der beiden Bücher, damit Eltern und Kinder gemeinsam einen konstruktiven Umgang mit Wut lernen können.

#1 Lerne Deine Wut kennen

«Je besser man den eigenen Zorn kennt, desto weniger besteht die Gefahr, dass man ihm als zerstörerische Kraft hilflos ausgeliefert ist.» schreibt Chemaly. Zunächst gilt es also, ein Bewusstsein für die eigene Wut zu schaffen. Wie zeigt sich meine Wut? Verstumme ich, köchele ich leise vor mich hin oder explodiere ich? Neige ich zum Grübeln oder bin ich expressiv? Kann ich sachlich für mich einstehen oder weine ich?

Fragen an Kinder: Wie fühlt sich deine Wut an? Wird es ganz heiss im Hals, wie bei einem Drachen? Oder spürst Du die Wut in deinem Bauch? Zeichne die Wut: Ist sie klein oder gross? Welche Farbe hat sie? Wie reagierst Du, wenn du wütend bist: Ziehst du dich zurück und weinst oder willst du am liebsten beissen und schlagen?

#2 Lass Deine Wut zu

Besser als Teller zu werfen, ist es die eigenen Gefühle benennen, aufschreiben und über sie reden. Nicht immer wird es möglich sein, sofort etwas gegen die Missstände zu unternehmen. Aber darüber zu sprechen, tut gut. Es geht dabei nicht darum, alles endlos wiederzukäuen, sondern die Probleme aufzudecken. Und vielleicht haben andere Lösungen oder Ideen, die einem selbst noch nicht eingefallen sind. Wenn man Gleichgesinnte im normalen Alltag nicht kennenlernt, lassen sie sich in virtuellen Netzwerken finden.

Für Kinder: Schlagen, hauen und beissen heisst oft ganz einfach: Ich fühle mich unsicher / gestresst / falsch verstanden / einsam / ungerecht behandelt. Man kann alleine oder gemeinsam mit anderen Kindern reflektieren: Was hilft dir, wenn du wütend bist? Wie kann man Wut gewaltfrei ausdrücken? Z.B. Imaginäre Kerzen ausblasen, ins Kissen schlagen, ganz laut «Stinkwut mit Gewitterkrachern und Blitzbrummern!» schimpfen.

#3 Versteh Deine Wut

Auch gut informiert sein, tut gut. Je besser wir die sozialen und politischen Zusammenhänge, die unser Leben beeinflussen kennen, desto besser können wir unsere Wut und Gefühle begreifen und desto besser sind wir gerüstet, für uns einzustehen.

Für Kinder: Man kann alleine oder gemeinsam mit anderen Kindern reflektieren: Warum wirst du wütend? Für ältere Kinder sind Bücher ein Weg um sich über mögliche Wut-Themen wie Rassismus und Frauenfeindlichkeit zu informieren: Das Buch vom Anti-Rassismus oder die kindgerechten Biografien von  Marie Curie und Simone de Beauvoir.

Und schliesslich: Die Kraft der Wut nutzen

Wer im Leben ungerecht behandelt wurde und eine tiefe, unverarbeitete Wut auf die Welt verspürt, kann diese Wut irgendwann auf sich selbst richten. «Ein Grossteil von Depressionen leitet sich ab von unterdrückter Wut. In der Therapie geht es dann darum, das Gefühl der Selbstwirksamkeit wieder zu etablieren. Das Gegenteil von depressiver Wut, ist es die Energie der Wut produktiv zu nutzen.» sagt Rasumowsky.

Chemaly plädiert dafür, die Energie der Wut zu nutzen, um eigene Rechte durchzusetzen und die Welt zu verändern. Anhand von #metoo oder #blacklivesmatter Bewegungen zeigt sie auf, wie Wut zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen kann. Wer nicht gleich Aktivistin werden will, kann die Wut auch im Kleinen nutzen. Es ist viel getan, wenn wir unseren Kindern einen gesunden Umgang mit Wut vorleben. Und ihnen erklären, warum es wichtig ist, wütend zu sein.

So gesehen, liebe Simone, kannst Du gerne erstmal tief durchatmen. Und sobald du ruhig und klar denken kannst: Empör dich! Steh für dich ein! Verändere die Welt!

Bildrechte: ©Simona Dietiker

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Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker von Momoland Photo gemacht.