Tipps für den Umgang mit Wut aus dem Elternkurs „Starke Eltern – Starke Kinder®

Eine Studie von Kinderschutz Schweiz zeigt: Jedes zwanzigste Kind wird zu Hause regelmässig körperlich bestraft. Das ist ein Kind in jeder Schulklasse. Corona hat das Problem verschärft. Wir fragten Patrizia Luger, Erwachsenenbildnerin und Kursleiterin «Starke Eltern – Starke Kinder®» nach konkreten Tipps für den Umgang mit elterlicher Wut.

Chez Mama Poule: Nehmen wir an, ich beobachte auf dem Schulweg, wie ein Elternteil sehr aggressiv mit seinem Kind umgeht. Wie kann ich als Aussenstehende am besten reagieren? Ohne übergriffig zu werden und die Situation noch schlimmer zu machen für die Familie?

Patrizia Luger: Gewalt hat oft mit Überforderung zu tun. Sie können einen passenden Moment abwarten und möglichst wertneutral Unterstützung anbieten: «Kann es sein, dass du Hilfe brauchst? Ich würde Dich gerne unterstützen.» Wenn Eltern nicht verbalisieren können, was sie brauchen, können Sie auch vorschlagen: «Komm, ich nehm Dein Kind mal mit auf den Spielplatz.» Sie können auch ganz konkret einfach eine Suppe vor die Türe stellen oder mal zum zMittag einladen.

Man spricht oft von Wutanfällen bei Kindern. Über die Wut von Eltern spricht man seltener. Warum?

Vor allem weibliche Wut wird in unserer Kultur nicht gerne gesehen. Dabei ist Wut nicht nur schlecht, sondern sinnvoll. Wut hilft Grenzen zu spüren. Eltern dürfen ihre Wut spüren. Wichtig ist, dass aus der Wut keine Gewalt gegenüber Kindern folgt. Diese hat lebenslange Schäden. 

Wie können Eltern ihre Wut spüren?

In unserem Elternkurs «Starke Eltern – Starke Kinder» stelle ich immer einen Dampfkochtopf in die Mitte. Ähnlich wie sich das Ventil von unten nach oben arbeitet, stauen sich Überforderung und Wut auf, bis man irgendwann buchstäblich explodiert. Es fühlt sich dann zwar an wie von null auf hundert. Aber wann man diesen Prozess versteht und sich der eigenen Wut bewusst wird, kann man auch spüren lernen, wie die Wut in einem langsam eskaliert.

Kann man der Eskalation entgegenwirken?

Hierfür arbeite ich mit dem Modell der «Wuttreppe». Die ist sehr hilfreich, um die Eskalation zu verbildlichen: Die Wut steigt in einem hoch, wie entlang einer Wuttreppe. Die guten Nachrichten sind: Auf der Wuttreppe gibt es immer einen Notausstieg. Den gibt es immer. Eltern können sich zu fragen: Auf welcher Stufe der Wuttreppe befinde ich mich, bevor es eskaliert? Das lernt man nicht von heute auf morgen, es ist ein Prozess der Übung erfordert.

Wie übt man sowas?

Im Kurs kleben wir die Wuttreppe mit Washitapes auf dem Boden nach und durchlaufen sie. Dabei versuchen wir eigene Wut-Situationen nachzuspielen. Und sind in einem geschützten Rahmen mit anderen Eltern. So können Eltern lernen: «Wo spüre ich die Wut in meinem Körper? Wie fühlt es sich an, kurz bevor es eskaliert? Und wie, wenn es dann eskaliert?» So eine Wuttreppe physisch zu durchzulaufen, kann sehr helfen, die eigene Wut bewusster wahrzunehmen. Diese Bewusstheit hilft schliesslich zum wichtigsten Schritt: Dass man im Alltag rechtzeitig merkt «Huch, jetzt bin ich wütend und jetzt ist der Notausstieg wichtig.»

Wie können solche Notausstiege aussehen?

Wenn man merkt, ich bin kurz davor zu explodieren, muss man als erstes aus der Situation raus, etwas Distanz zum Kind einnehmen. Dann kann helfen: Tief durchatmen, kaltes Wasser trinken, Treppen laufen, bis 10 zählen, ins Kissen schlagen oder schreien. Vielen hilft auch auf dem Boden stampfen. Wenn man die Möglichkeit hat, kurz raus an die frische Luft gehen. Wichtig ist, dass Eltern sich selbst überlegen: Was tut mir gut? Und sich dann verschiede Strategien aneignen, wie sie aus der Wut wieder aussteigen. Das sind Eltern auch gutes Vorbild für die Kinder.

In einer schweizweiten Kampagne gegen Gewalt an Kindern hat Kinderschutz Schweiz das Plüschmönsterli «EMMO» lanciert. Inwiefern kann «EMMO» Gewalt in der Erziehung reduzieren?  

Das Plüschmönsterli hilft Kindern ihre Gefühle leicht zum Ausdruck zu bringen: Geht es dem Kind gut, ist «EMMO» bunt und happy. Geht es dem Kind schlecht, kann es «EMMO» umstülpen, sodass er grau und traurig wird. «EMMO» ist ein einfaches, aber wirksames Instrument, das eine Eskalation und Gewalt verhindert und kann ein weiterer Notausstieg aus der Wuttreppe sein.

Wut und Emotionen kontrollieren mit einem Plüschmönsterli
„EMMO“ hilft Kindern ihre Gefühle zu signalisieren. Geht es dem Kind gut, so lächelt „EMMO“ fröhlich. Fühlt sich das Kind bedroht, kann es „EMMO“ umstülpen und das Plüschmönsterli wird traurig, sein Herz gebrochen. Erhältlich bei kinderschutz.ch
So lernen Eltern und Kindern gemeinsam ihre Gefühle verstehen.

Die Selbstkenntnis über sich und die eigenen Gefühle zu erlangen, ist zentral. Also verstehen, wie bin ich? Warum reagiere ich so, wie ich reagiere? Als «Starke Eltern – Starke Kinder»-Elternkursleiter*innen arbeiten wir mit einem fünf-Stufen-Modell: Als allererstes kommen die bereits erwähnten Werte, wenn ich diese definiert habe, kenn ich mich selbst besser. Wenn ich die Selbsterkenntnis habe, habe ich Selbstvertrauen und kann klar kommunizieren, was ich brauche. Und wenn ich all das habe, kann ich Konflikte bewältigen und Verantwortung übernehmen. Das können Eltern in unseren Elternkursen lernen oder auch in einzelnen Coachings.

Was sind typische Situationen, in denen Eltern in Wut geraten?

Wenn die eigenen Bedürfnisse zu kurz kommen. Zu wenig Schlaf ist ein grosses Thema bei Eltern. Aber auch zu wenig Me-Time, zu wenig gegessen, Konflikte in der Partnerschaft. Auch die Autonomiephase (Trotzalter) ist herausfordernd: Wenn Kinder sich nicht anschnallen wollen im Auto, wenn sie sich nicht anziehen wollen, die Schule oder Hausaufgaben verweigern.

Ehestress oder zu wenig Schlaf sind verständlich. Warum triggert es Eltern aber so sehr, wenn ein Kind die Hausaufgaben verweigert?

Das hat oft mit eigenen Werten zu tun. Am ersten Abend unseres Kurses sehen wir uns an: Was sind überhaupt meine Werte? Was sind die Werte meines Partners? Und ganz wichtig: Sind meine Werte auch wirklich meine Werte? Oder habe ich diese Werte übernommen? Oftmals merken Eltern beim genauen Hinschauen, dass sie viele Werte verinnerlicht haben, die gar nicht ihnen gehören. Sondern dass sie einfach kritische Stimmen hören, vielleicht von ihren eigenen Eltern.

Haben Sie ein Beispiel?

Einer Mutter wäre es vielleicht egal, wenn ihr Kind mal nicht in die Schule geht oder die Hausaufgaben nicht macht. Aber sie denkt vielleicht «Meine Eltern hätten das früher nie zugelassen.» Oder ein Vater denkt, das Kind müsse doch sein Zimmer aufräumen. Denn «so macht man» es ja.

Auch Ängste können von Generation zu Generation vermittelt werden. Zum Beispiel wie Müttern zu sein haben oder wovor sich Mütter fürchten müssen.

Ja, aber es sind nicht nur die kritischen elterlichen Stimmen, sondern alles was einen unbewusst prägt. Es kann auch die Gesellschaft sein oder der Ehemann, die Schwiegerfamilie oder auch nur die Nachbarin. All diese unbewussten Stimmen können wahnsinnigen Stress auslösen.

Wie wird man diese Stimmen los?

In dem man sich fragt: Und was will ich heute in meiner Rolle als Mutter oder Vater? Ist es mein gesundes und erwachsenes Ich, das hier spricht? Von welchen Stimmen will ich mich leiten lassen? Welche Werte sind mir wichtig? Dann definiert man diese Werte für sich und leitet daraus Regeln für die Familie auf.

Nehmen wir an, ein Kind will sich an diese Regeln nicht halten.

Das sind dann die klassischen Konflikte: Wenn Eltern diese Regeln für sich bestimmen und den Kindern einfach auflegen. Wenn wir Kindern aber auf Augenhöhe begegnen und sie partizipieren lassen beim Regeln aufstellen, sind sie eher bereit zu kooperieren. So ca. ab drei Jahren kann man gemeinsame Regeln definieren.

Entstehen Konflikte mit dem Partner auch über Werte?

Ganz genau. Hier hilft es sich zu fragen: Kenne ich die Werte meines Partners überhaupt? Haben wir mal darüber gesprochen? Oft denkt man: «Ja, ja, weiss ich alles. Wir haben geheiratet und eine tolle Beziehung.» Es gibt aber unausgesprochene Deals. In unseren Kursen merken Eltern oft: «Hey so genau haben wir das nie geregelt, wir haben uns nie damit auseinandergesetzt.»

Muss man die gleichen Werte haben wie der Partner?

Nein und schon alleine diese Einsicht kann viel Entspannung in die Beziehung bringen. Aber es ist dennoch sehr hilfreich, wenn man über die Werte spricht.

Wie beraten Sie Eltern, die einen schweren Ehekonflikt haben?

Ich frage oft, welcher ist euer zentraler Wert, was ist euch am wichtigsten? Und wenn wir merken, dieser Wert wird verletzt, dann konzentrieren wir uns in der Beratung auf diese Werte.

Nehmen wir die aufgeräumte Wohnung: Ist das ein Wert oder ein Bedürfnis?

Ordnung kann ein Wert sein. Und «Es ist mir wichtig, dass das Wohnzimmer aufgeräumt ist» wäre dann ein Bedürfnis.

Und die Regel draus?

Dass wir vereinbaren, dass im Wohnzimmer keine Spielsachen rumliegen und dieser Ort immer aufgeräumt wird.

Als Kursleiterin sind Sie ständig mit Elternthemen konfrontiert, Ihre Kinder sind aber schon älter, profitiert Ihr Familienleben dennoch von Ihrem Beruf?

Meine Kinder sind schon älter, aber die Themen bleiben oft dieselben. Das Wissen und die Modelle helfen mir, innezuhalten und zu reflektieren: «Hmm, da hab ich nicht so gut reagiert, das nächste Mal kann ich mich an dieses Modell halten.» Dabei geht es darum, Erziehungs- aber auch Beziehungsmuster anders anzugehen. Nicht besser, aber bewusster.

Elternsein hilft sich selbst kennen zu lernen, unsere Werte und Bedürfnisse zu verstehen.

Ich sage immer: Kinder entwickeln sich und wachsen. Als Eltern bekommen wir eine Chance an ihrer Seite ebenfalls innerlich zu wachsen.

Patrizia Luger

Patrizia Luger ist Erwachsenenbildnerin, zertifizierte Kursleiterin „Starke Eltern – Starke Kinder®“ und Mutter von drei Jungs. Sie bietet Einzelberatung sowie die im Artikel besprochenen Elternkurse „Starke Eltern – Starke Kinder®“ an und bildet wiederum neue Kursleiter*innen für ebendiese Kurse aus. Mehr über Patrizia Luger erfährt ihr auf: patrizialuger.ch

Patrizia Luger Kinderschutz Schweiz

Werbung / Transparenz: Dieses Interview entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Ellen Girod wurde für Ihre Arbeit an diesem Interview entschädigt.

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Das Titelbild hat die Familienfotografin Simona Dietiker von Momoland Photo gemacht.