Kinder weinen nicht, um uns zu manipulieren, sondern aus einem sehr wichtigen Grund: um den Stress abzubauen. Vom zerbrochenen Keks und wie wir es schaffen, bei Wutanfällen selber ruhig zu bleiben.

Ich bin Anna. Ich bin sechs Jahre alt. Mein kleiner Bruder hielt meine Mama die ganze Nacht wach. Entsprechend ist die Stimmung zu Hause heute früh etwas gekippt. Meine Mama ist müde und gereizt. Doof. Ich soll mich für den Kindergarten anziehen, aber mein Lieblingsshirt ist in der Wäsche. Wie blöd ist das denn! Muss ich mir halt was anderes anziehen. Als ich mitten im Spiel bin, werde ich unterbrochen, weil meine Mama noch einen Arzttermin hat und heute alles etwas schneller gehen muss.

Ich komme als eine der Ersten im Kindergarten an, doch meine beste Freundin, Sophie, ist noch gar nicht da. Warten ist mühsam. Endlich! Hallo Sophie! Aber was ist denn los, Sophie mag heute gar nicht mit mir spielen. Wieder mühsam. Irgendwann spielen wir dann doch zusammen, da zieht mir Sophie plötzlich an den Haaren. Und ich zieh natürlich zurück. Just da kommt die Erzieherin rein und ich kriege richtig Ärger. Dabei hat Sophie doch alles begonnen! Wie unfair ist das denn. Jetzt packt noch Noah seine tolle Milchschnitte aus. Und ich? Ich hab nur so ein langweiliges Vollkornbrötchen dabei. Oh Mann… Irgendwann werden alle Kinder abgeholt, nur mein Papa ist noch nicht da. Ich muss warten. Und warten. Wo ist er denn? Ich bin die Letzte, die so lange warten muss. Endlich! Papa ist da!

Nach dem Mittagessen darf ich noch einen Keks. Da freu ich mich richtig drauf! Ich öffne die Keksdose. Es hat noch genau einen Keks drin. Und der. ist. zerbrochen. Ich fange an zu weinen. Werfe mich zu Boden. Trommle mit meinen Ärmchen gegen das Parkett. Das Ganze dauert vielleicht 15 Minuten. Mein Papa steht fassungslos da und fragt sich: „All das nur wegen dem zerbrochenen Keks?“

Wutanfälle bei Kindern: Eine neue Kekspackung wäre keine gute Idee

In meiner vierjährigen Karriere als Mutter, stand ich schon mehrfach in Annas Vaters Schuhen. Leider waren in diesen schweren Momenten oft Leute dabei, die mit mir ihre sehr unhilfreichen Beobachtungen teilten, wie z.B. «Na, die tanzt Dir aber ganz schön auf der Nase rum.» oder «Was für ein Drama wegen einem Keks!». Was meinen Schweissperlen jeweils einen noch heftigeren Schub verpasste. Denn damals kannte ich Annas Keks-Gleichnis nicht und zweifelte an mir als Mutter. Seid bitte schläuer und lest weiter.

Das Keks-Gleichnis stammt aus Auch kleine Kinder haben grossen Kummer von Dr. Aletha J. Solter, der schweizerisch-amerikanischen Entwicklungspsychologin und Gründerin des Aware-Parenting-Instituts in Kalifornien. Solter untersuchte über 30 Jahre lang das kindliche Weinen und kam zum folgenden Schluss: Kinder weinen, um ihren Stress abzubauen. Tränen und Wutanfälle bei Kindern sind Zeichen einer gesunden Entwicklung. Weinen ist wichtig und heilsam. Das Weinen unserer Kinder auszuhalten und zu begleiten ist für uns Eltern alles andere als einfach, viele von uns haben das selber in ihrer Kindheit nicht erlebt und möchten impulsiv alles tun, um unsere Kinder zu beruhigen. Nach Solter sollten wir diesen Impulsen widerstehen und unseren Kindern ihre Wutanfälle und ihre Trauer erlauben.

Annas Vater könnte zwar gleich eine neue Kekspackung aus dem Vorratsschrank holen. Das würde aber kaum helfen, zumindest nicht nachhaltig. Denn sehr wahrscheinlich geht es Anna gar nicht um den Keks, sondern um den angesammelten Stress. Und dieser will raus. Der zerbrochene Keks ist die gepunktete Hose ist der blaue Becher ist das falsch geschnittene Brot. Es ist der berühmte Tropfen, der gelegentlich auch die Fässe von uns Erwachsenen zum Überlaufen bringt.

 
 
 
 
 
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Es ist eine Ehre, einen Wutanfall begleiten zu dürfen

Was tun also als Eltern in einer zerbrochener-Keks-Situation? Anke Eyrich, Familientherapeutin und Aware-Parenting-Beraterin, plädiert für „durch die Wut begleiten“: «Den Wutanfall möglichst nicht stoppen wollen. Sondern dem Kind zeigen, dass es in Ordnung ist, wenn es weint und dass es in seiner Wut und Not genauso geliebt wird.» Und es sei wichtig, dass Eltern dabei auch ihre eigenen Gefühle wahrnehmen. So würden Kinder und ihre Eltern gleichzeitig lernen mit Stress umzugehen.

Diesen Stressabbau durch Tränen und Wüten lassen Kinder nur bei ihren engsten Bindungspersonen zu. Das ist auch der Grund, weshalb unsere Kinder oft in der Kita und bei den Grosseltern „brav“ und angepasst sind, sobald aber die Mutter oder Vater auftauchen, wegen einer Kleinigkeit in grossen Tränen ausbrechen. Wir können es positiv sehen: Es ist eine Ehre, wenn Kinder ihren Gefühlen in unserer Anwesenheit freien Lauf lassen. Damit sagen sie uns: Bei Dir bin ich sicher genug, bei Dir kann ich loslassen, bei Dir kann ich so sein, wie ich bin. 

Sieben Ideen wie wir Wutanfälle bei Kindern begleiten können

Doch die Wutanfälle bei Kindern auszuhalten, kann für Eltern sehr herausfordernd werden. Unsere Impulse das Kind abzulenken oder möglichst schnell «still zu kriegen» sind oft sehr stark. Vielleicht weil unsere Kultur nicht gut mit Gefühlen, Trauer und Wut umgehen kann. Vielleicht weil viele von uns selbst als Kind vom Weinen abgelenkt wurden. Viele von uns haben Sätze intus wie «Nichts passiert!», „Alles gut!“ oder «Indianer kennen keinen Schmerz.» Deshalb kommen hier ein paar Ideen für Eltern mit wenig Zeit (gerngeschehen 🙂 

  • Tief in den Bauch ein- und ausatmen.
  • Die eigenen Gefühle und körperlichen Empfindungen wahrnehmen.
  • Sich bewusst werden, dass Kinder nichts gegen uns Eltern tun, sondern nur für sich. Den Wutanfall nicht persönlich nehmen. 
  • Unseren negativen Impulsen widerstehen. Für das Kind ist sehr viel passiert, ein „Nichts passiert!“ wäre jetzt sehr verwirrend. Auch Strafen oder aufs Zimmer schicken, würde eurer Beziehung einen Bruch verleihen, statt stärken.
  • Körperliche Nähe anbieten, sofern das Kind diese auch will.
  • Aufmerksamkeit und Präsenz zeigen, das Kind nicht alleine in seiner Not lassen.
  • Wenn es passt, empathisch auf das Kind einreden «Ich verstehe Dich. Ich liebe Dich. Du kannst alles rauslassen beim Weinen. Ich bin bei dir. Ich höre Dich. Deine Gefühle sind richtig. Deine Gefühle sind mir wichtig.»
  • Nach dem Wutanfall: Über unseren eigenen Umgang mit Wut und Stress reflektieren. Und zusammen mit unseren Kindern wachsen.

Und hier das Ganze noch als kleiner Reminder für den Kühlschrank (einfach antippen und ausdrucken): 

Wutanfälle bei Kindern - Checkliste

Dieser Beitrag ist entstanden Dank Mama-Poule-Unterstützerinnen*innen. Falls auch Du das Projekt #mitKindernaufAugenhöhe unterstützen willst: So funktionierts 

Bildrechte: ©Simona Dietiker

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Das Bild für diesen Beitrag hat meine Freundin und unfassbar talentierte Dokumentarfotografin Simona Dietiker von Momoland Photo gemacht. Ihr wollt auch solch echten und ehrlichen Momente eurer Familie festhalten? Mehr Infos: www.momolandphoto.ch


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